Folgen der Pandemie:Die Verzweiflung des Tänzers

Jörg Götze stand auf den Bühnen der Welt, dann übernahm er die Ballettschule seiner Mutter. In der Pandemie haben zwei Drittel der Schüler gekündigt. Nun hat der 58-Jährige Angst, dass er alles verliert

Von Florian J. Haamann

Jörg Götze steht in der Mitte seines lichtdurchfluteten Ballett-Saals. Jeder Muskel seines Körpers ist angespannt. Er bringt sich in die Ausgangsposition für die nächste Übung, schiebt das linke Bein nach vorne, stellt sich leicht auf die Fußspitze, die Arme öffnen sich vor dem Körper. In der eleganten Haltung des 58-Jährigen erkennt man noch immer den früheren Balletttänzer der Bayerischen Staatsoper, der auch in den USA und in Paris auf der Bühne stand. "Sousous, Devant, Derrière", gibt er die Anweisung. Doch die Schülerinnen, denen er den nächsten Bewegungsablauf vormacht, sind nicht wie gewohnt bei ihm im Saal. Sie sind zu Rechtecken geworden, die ganz klein auf dem Laptop zu sehen sind, der auf einem Holzhocker an der Stirnseite des Raumes steht. Und es sind nicht wie gewohnt etwa ein Dutzend Mädchen, sondern nur noch vier.

Wer es wie Götze geschafft hat, professioneller Balletttänzer zu werden, der hat viele Härten durchgestanden, zahlreiche Schläge weggesteckt - im wahrsten Sinne des Wortes. Doch so sehr gelitten wie in den vergangenen Wochen hat Jörg Götze noch nie.

Seit dem November-Lockdown ist seine Ballettschule in Fürstenfeldbruck geschlossen. Und wenn nicht bald etwas passiert, dann wird sie vielleicht nie wieder öffnen. "Ich bekomme Kündigungen ohne Ende, mit bitterbösen Briefen, als wäre ich schuld an der Pandemie. Mir wird vorgeworfen, ich würde keine Leistung erbringen, weil ich nur Onlineunterricht gebe", erzählt Götze. Zwar verstehe er, dass die Leute keine Geduld mehr hätten, ihm gehe es da nicht anders. Doch dass er zur Zielscheibe der Wut geworden ist, erschüttert ihn zutiefst.

Aber es sind nicht nur die Kündigungen, die ihn belasten. "Ich kriege auch rührende Schreiben von Eltern, die ihre Kinder nicht mehr dazu bewegen können, am Online-Training teilzunehmen. Denen fehlt das persönliche Zusammensein." Manchmal schaffe er es die ganze Woche nicht, den überquellenden Briefkasten zu leeren. Etwa zwei Drittel seiner 150 Schüler habe er bereits verloren. "Es ist deprimierend und unendlich traurig."

Die Ballettschule, die Götze nun durch ihre schwerste Krise bringen muss und an der Tausende Kinder das Tanzen gelernt haben, ist älter als er selbst. Seine Mutter, die Tänzerin Maud Götze, hat bereits Ende der Fünfzigerjahre - noch vor ihrem Umzug in den Landkreis Fürstenfeldbruck - in Cham eine eigene Schule eröffnet.

Folgen der Pandemie: Trainieren mit Schülerinnen in seiner Schule darf Ballettlehrer Jörg Götze seit November nicht mehr. Damit er auf dem Bild aber nicht so alleine ist, wie beim Online- Unterricht, hat er zum Fototermin zwei seiner Tänzerinnen eingeladen.

Trainieren mit Schülerinnen in seiner Schule darf Ballettlehrer Jörg Götze seit November nicht mehr. Damit er auf dem Bild aber nicht so alleine ist, wie beim Online- Unterricht, hat er zum Fototermin zwei seiner Tänzerinnen eingeladen.

(Foto: Günther Reger)

Dort beginnt die Geschichte der Schule 1965 in einem kleinen Kellerstudio unter einer Reinigungsfirma in Emmering. Seit seinem 18. Lebensjahr hat Jörg Götze dort unterrichtet, 1986 hat er mit dem Umzug nach Fürstenfeldbruck die Leitung übernommen. "Die Schule ist der Inbegriff meines Lebens. Ich möchte diese Berufung weiter ausüben. Kinder, Jugendliche und Erwachsene unterrichten", sagt Götze. Über die Jahre hatte sich die Schule einen hervorragenden Ruf erarbeitet, die Kunden kamen aus der Region Augsburg ebenso in das Studio in der Brucker Hauptstraße wie aus München. Sogar Schauspieler und ehemalige Tänzer seien gerne zu ihm gekommen, weil ihnen das Angebot gefallen habe, erzählt Götze.

Dass er das mit der Berufung ernst meint, ist sogar im so fremden und unpersönlichen Online-Unterricht zu spüren. Nicht nur an der Art, wie er jede Übung voll konzentriert angeht, sondern auch daran, wie er mit seinen Schülerinnen spricht. "Die Beinarbeit war bei euch allen super, super, super", "Leute, ihr wart heute mega gut", richtet er sich nach jedem Abschnitt an seine Zuhörerinnen.

Unterstützt wird er beim Unterricht von seiner langjährigen Mitarbeiterin Claudia. Und da ist schon das nächste Thema, das Götze betrübt. Wegen der finanziellen Lage musste er ihr kündigen. Sie hat bereits einen neuen Job gefunden, in einem ganz anderen Bereich. Beim Training unterstützt sie Götze an diesem Abend trotzdem - weil sie Urlaub hat. Claudia also, die seit ihrer Kindheit bei Götze tanzt, sitzt am CD-Spieler und kümmert sich um die Musik, springt immer wieder zum Laptop, um zu überprüfen, ob die Schülerinnen mit den Übungen klar kommen.

Den Betrieb der Schule sichert aktuell das Erbe, das Götze von seiner Mutter hat. "Jeden Monat gehen 2 000 Euro davon drauf. Wenn es so weiter geht, halte ich noch zwei Monate, vielleicht drei Monate durch", sagt Götze. Etwa 1 600 Euro koste der Unterhalt der Schule insgesamt, dazu kommen die privaten Ausgaben, Miete, Essen, Telefon. Die Einnahmen der Schule sinken nicht nur durch die Kündigungen; von den verbliebenen Mitgliedern zahlen nur noch wenige den vollen Betrag, vielleicht ein Fünftel, schätzt Götze. Schon zu Beginn der Pandemie ist er allen entgegen gekommen, die nicht den vollen Beitrag zahlen konnten oder wollten. "Den Leuten geht es ja auch nicht so gut, ich war und bin zu jedem Kompromiss bereit." Als Künstler sei Geld sowieso nicht das, was einen antreibe. "Aber die Kosten müssen halt irgendwie gedeckt werden."

Folgen der Pandemie: Die Ballettschuhe an den Nagel zu hängen, kommt für Schulleiter Jörg Götze nicht in Frage.

Die Ballettschuhe an den Nagel zu hängen, kommt für Schulleiter Jörg Götze nicht in Frage.

(Foto: Günther Reger)

Deutliche Kritik übt Götze an der Politik. "Es kommt einem manchmal so vor, als ob die Kunst und der Mittelstand nichts mehr gelten. Wir fallen komplett hinten runter und bekommen keine Perspektive, wann und wie es weitergehen kann, niemand spricht mit uns", sagt er. Mehrfach habe er an verschiedenen Stellen nachgefragt, Mails an die Regierung von Oberbayern geschrieben. Und nicht einmal eine Antwort bekommen. "Die Kinder dürfen in die Schule, wenn sie getestet sind, mit dem gleichen Testergebnis aber nicht am Abend zu uns kommen. Manche Läden dürfen aufmachen, wir nicht. Das kann doch niemand verstehen. Es ist richtig, dass wir die Pandemie bekämpfen. Aber sieben Monate sind eine lange Zeit, da muss man uns doch unterstützen."

Natürlich hat auch Götze die staatliche Unterstützung erhalten, die zum Beginn des November-Lockdowns aufgelegt wurde. Seitdem ist er auf sich allein gestellt. Außerdem hat er die Hilfen damals verwendet, um Eltern die Mitgliedsbeiträge zurückzuzahlen. "Damit ist mir davon eigentlich gar nichts geblieben."

Was Götze am meisten abgeht in dieser schwierigen Zeit, in der Politik genau wie bei dem, was er mit einigen seiner Kunden erlebt, ist die Menschlichkeit. Auch das ist bei ihm mehr als nur eine Floskel. Für ihn sei immer klar gewesen, dass der Unterricht in seiner Schule nicht nur etwas für Gutverdienende sein solle. "Jeder soll das machen können. Ich hatte Fälle, da sind Eltern arbeitslos geworden, und ich habe die Kinder einfach kostenlos weiter unterrichtet. Ich wollte nicht, dass ihnen das genommen wird. Die können ja am wenigsten dafür." Seit der Euroeinführung habe er auch seine Preise nicht mehr erhöht. Die Jüngsten zahlen 31 Euro im Monat, ältere Kinder 36 Euro, Erwachsene 39 Euro.

Wie es denn weitergehen solle, wenn er die Schule schließen müsse? "Ich könnte zumachen und alles für einen Apfel und ein Ei verkaufen. Aber wer kauft denn in diesen Zeiten eine Ballettschule? Beim Jobcenter hat man mir gesagt, dass ich ein Auslaufmodell bin. Ich würde also zum Sozialfall werden, obwohl ich topfit bin und mir nichts fehlt."

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