Folgen der Kreisreform:Höchste Zeit für eine neue Zeit

Vor 40 Jahren liegt Wolfratshausen im Dornröschenschlaf. Die Stadt hat ihren Bedeutungsverlust noch nicht verkraftet.

Von Jürgen Wolfram

Wer vor vier Jahrzehnten an der Loisach in Wolfratshausen entlang spazierte, hätte versucht sein können zu glauben, er wandle durch Dornröschens Schlummergarten. Vor ihm breitet sich ein Idyll aus, das mit der Flussdynamik erkennbar nicht Schritt hält. Einzig überörtlich bekanntes Label wie seit Ewigkeiten: die Flößerei. Keine Stadthalle will in Sicht kommen, nur ein architektonisch umstrittener Sparkassenbau. Weit und breit kaum urbane Siedlungsstrukturen, Betriebe mit mehr als 50 Mitarbeitern sind an den Fingern einer Hand abzuzählen. Lediglich das altmodische Isar-Kaufhaus dient als Magnet, auch wegen seines damals neuartigen Schnellrestaurants.

1977 noch besteigt das Heer der Berufspendler aus Wolfratshausen vorsintflutliche Eisenbahnzüge, auf denen "S 10" und noch lange nicht "S 7" prangt, während der übrige Münchner Großraum längst im modernen S-Bahn-Netz unterwegs ist. Wären Postkutschen statt Autos durch die Marktstraße gerumpelt, das Staunen hätte sich in Grenzen gehalten. Klare Diagnose: Hier hat eine Stadt ihren Bedeutungsverlust durch die Kreisgebietsreform nicht verwunden, ist in trotzige Erstarrung gefallen.

Folgen der Kreisreform: Eine historische Postkarte mit dem Loisach-Ufer: Der Sebastianisteg fehlt, er wurde erst 1988 gebaut.

Eine historische Postkarte mit dem Loisach-Ufer: Der Sebastianisteg fehlt, er wurde erst 1988 gebaut.

(Foto: Hartmut Pöstges/WOR)

Hilflose Versuche, wenigstens am Kfz-Kennzeichen noch was zu drehen, verpuffen wirkungslos. Wichtige Behörden wandern ab nach Bad Tölz, lediglich das Amtsgericht sowie die Landwirtschaftsschule kann man gerade noch festhalten. Und bei der Einwohnerzahl hat der ungeliebte Nachbar Geretsried das im Stolz verletzte Zwei-Flüsse-Städtchen längst überflügelt. Mit einem Satz: Die Ausgangslage Ende der 1970er Jahre stellt sich in Wolfratshausen so dar, dass es höchste Zeit wird für eine neue Zeit.

Im Rathaus regieren damals in Wahrheit nicht die Gebrüder Grimm, sondern mit Willy Thieme und seinem Nachfolger Erich Brockard zwei sozialdemokratische Bürgermeister, die sich alles andere als grün sind. Immerhin verbindet sie die Einsicht in die Notwendigkeit, Akzente der Modernisierung zu setzen.

Sichtbarste Zeichen sind die Ausweisung des Gewerbegebiets am Hans-Urmiller-Ring und die Ansiedlung des amerikanischen Pharma-Kolosses Cyanamid. Dessen Niederlassung hat inzwischen nur noch die Konturen einer blassen Erinnerung, aber der Boden ist bereitet für viele Unternehmen, nicht zuletzt für ein bekanntes Möbelhaus, das inzwischen aber auch schon wieder den Stab an ein anderes bekanntes Möbelhaus weitergereicht hat. Mit dem Bau der Loisachhalle folgt dem wirtschaftlichen der entscheidende kulturell-gesellschaftliche Impuls. Hier geben sich Künstler von Rang die Klinke in die Hand und bescheren dem Namen ihres Gastspielorts nebenbei einen attraktiven Klang.

50 Jahre Isar Kaufhaus

Das Isar-Kaufhaus wurde 1966 eröffnet und 2012 geschlossen. Das Bild stammt aus einem Film von Rüdiger Lorenz.

(Foto: privat)

Eher provinziell wie der jederzeit gültige Wolfratshauser Faschingsgruß ("Du mi a") bleibt eine ganze Weile noch die Begleitmusik der Kommentare zur großen Erneuerung. Neubausiedlungen wie diejenige im Gleisdreieck schmähen Alteingesessene als "Indianerdorf", die bauliche Verdichtung im Bahnhofsgebiet mutet für sie an wie blanker Größenwahn, der Abriss alter Villen zugunsten von Discountern erscheint ihnen als Sakrileg.

Doch die Dinge nehmen ihren Lauf. Dafür sorgt neben dem Stadtrat ein ortsansässiger Politiker, der als Landtagsabgeordneter, CSU-Generalsekretär, bayerischer Innenminister und Ministerpräsident noch von sich reden machen soll. Am Ende aber muss Edmund Stoiber die Aufbruchseuphorie der Leute höchstpersönlich bremsen. Vierspuriger Ausbau der B 11 oder S-Bahn-Verlängerung nach Geretsried? Beides auf einmal gehe selbstverständlich nicht.

Wofür die Wolfratshauser letztlich plädieren, ist bekannt. Lieber eine breite Schnellstraße als im Sinne Geretsrieds über eine allseits verträgliche Gleisführung nachdenken. Kann man irgendwann immer noch nachholen. In der Gegenwart zum Beispiel. Um den Anschluss an die große weite Welt nicht zu verpassen, zieht Wolfratshausen nicht zuletzt die Partnerschaftskarte. Verbandelt mit dem französischen Barbezieux ist die Stadt vor 40 Jahren bereits; heute trägt ein ganzes Wohnviertel diesen Namen. Dann entdecken japanische Geschäftsleute das museal wirkende Idyll an der Loisach und zeigen sich hingerissen. Die höfliche Kontaktaufnahme der Gäste aus Fernost verfängt, und Wolfratshausen hat plötzlich ein Standbein in Iruma, einem Industriemoloch, fast zehnmal so groß wie die eigene Kommune.

Exotisch genug, doch nichts gegen die Liaison mit dem Schnellboot "S 47" der Bundesmarine. Wie oberbayerische Stadträte sich bei einem Besuch im Norden schaudernd der Kanaltaufe unterziehen, in Flensburg mit spitzen Fingern im Labskaus herumstochern und mit wehendem Haar auf Helgoland zurasen - da kommt keine Satire mit.

Das Schiff ist längst abgewrackt, geblieben sind die Bilder eines Gegenbesuchs seiner Mannschaft, der "blauen Jungs". Die brachten es doch tatsächlich fertig, das Traditionslokal Humplbräu im wahrsten Wortsinn leer zu saufen. Nun ja, der Speisenkarten-Dauerbrenner "Braten halb und halb" ist seit jeher eine solide Grundlage für rühmliche Taten gewesen.

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