Süddeutsche Zeitung

Förderprojekt:Liebeskummer ohne Publikum

Lesezeit: 3 Min.

Wegen Corona erlebt Reinhold Florian plötzlich eine Krise: Von welchem Geld soll er leben? Wer ist er ohne Bühne überhaupt? Ein Projekt hilft dem Zauberkünstler nun, sichtbar zu bleiben

Von Franziska Bohn, Bruck

"Heute schminke ich mich eher dezent", sagt Reinhold Florian, 52. Er steht vor einem großen Spiegel in seinem Badezimmer in Bruck im Landkreis Ebersberg und tupft mit einem rosa Schwämmchen Make-up auf sein Gesicht. Tupfen, nicht schmieren, so wie es ihm seine Maskenbildnerin gezeigt hat. "Normalerweise benutze ich mehr Glitzer", sagt er. Sein Kinn bekommt allmählich einen orangefarbenen Ton - und der Bartschatten verschwindet. Reinhold Florian ist Künstler, Schauspieler, Coach und war Weltmeister im Zaubern. Jeder kennt ihn eigentlich nur unter seinem Künstlernamen Gaston Florin - auch privat nennen ihn alle so. Normalerweise tritt der 52-Jährige auf großen und kleinen Bühnen in ganz Deutschland auf, häufig auch als Jacqueline, eine Kunstfigur, die er vor mehr als zehn Jahren erschaffen hat.

Bis sich Gaston in Jacqueline verwandelt, dauert es eine Stunde. Er nimmt einen der 18 Pinsel aus seiner Kosmetiktasche und tupft ihn in Rouge, um sich höhere Wangenknochen zu schminken. An diesem Tag nimmt Jacqueline eine Gesangsstunde - Teil eines Rechercheprojekts, an dem der Zauberkünstler derzeit arbeitet. Das Bundesnetzwerk Flausen+ startete im Herbst das Programm "Take-Care-Residenzen": Die Teilnehmenden dürfen unter dem Dach eines Theaters an künstlerischen Projekten forschen. Das Besondere daran: Sie müssen kein Programm abliefern, sie dürfen scheitern. Gaston ist einer von zwölf Künstlerinnen und Künstlern, die sich unter dem Dach des Moosacher Meta-Theaters mit ganz unterschiedlichen Projekten beschäftigen. Als Jacqueline will er etwas machen, das er nicht kann: Bei seinem nächsten Event singen.

5000 Euro bekommt Gaston im Zuge dieses Förderprojekts. Geld, das der Zauberer gut gebrauchen kann. Denn wegen Corona sind sämtliche kulturellen Einrichtungen geschlossen, alle Veranstaltungen abgesagt. Für Gaston eine Katastrophe - 90 Prozent seiner Einnahmen brachen mit dem ersten Lockdown einfach weg. Selbst danach wurde es nicht viel besser. Um die Folgen der Krise abzufedern, haben Bund und Länder umfangreiche Hilfsprogramme bereitgestellt. Im ersten Lockdown hat Gaston 9000 Euro Soforthilfe bekommen, weil er Betriebskosten nachweisen konnte, er beschäftigt unter anderem eine Sekretärin für seine Buchhaltung.

Gaston muss sich schließlich Geld von seiner Familie leihen. Seine Frau nimmt mehrere Jobs an. Und der Künstler selbst muss plötzlich in eine ganz andere Rolle schlüpfen: Statt auf einer Bühne zu stehen, ist er jetzt Hausmann, hilft seinem Sohn beim Homeschooling, übt mit ihm Mathe-Grundlagen. "Dann habe ich alles infrage gestellt", sagt er. Plötzlich steckt Gaston nicht nur in einer finanziellen Krise, sondern auch in einer identitären. Er muss sich mit Fragen auseinandersetzen wie: "Was kann ich eigentlich? Wer bin ich? Wer bin ich ohne Bühne?" Das Gesangsprojekt hilft ihm jetzt, gibt ihm Struktur, motiviert ihn, jeden Morgen aufzustehen und positiv zu bleiben.

Mit schnellen, kurzen Strichen zieht Gaston seine Augenbrauen nach, damit sie länger und voller wirken. Etwa 20 Minuten sind bisher vergangen. Mittlerweile sind seine Gesichtszüge weicher, die Gestik femininer. Um während der Pandemie auch ohne Auftritte sichtbar zu bleiben, musste sich Gaston etwas einfallen lassen. Deshalb veröffentlicht er seine Gesangsstunden auf seinem Youtube-Kanal. Dort dokumentiert er auch Fehler. So soll der digitale Raum menschlicher werden, hofft Gaston. Dafür hat er sich selbst beigebracht, wie man Videos aufnimmt und schneidet.

Gerade in Krisen ist die kreative Branche besonders wichtig: "Wir brauchen Kunst, um mit der Welt zurechtzukommen. Kunst findet Antworten." Was der Kultur allerdings gerade fehlt, ist das Publikum. "Ich bin ausgehungert nach Publikum! Wir wollen knutschen", erklärt Gaston. Er will seine Zuschauerinnen und Zuschauer riechen und anfassen können, verliebt sein dürfen. Ihm fehle das Feedback. Er ist sich nicht sicher, ob das, was er auf Youtube lädt, gut ankommt oder nicht. Nach der Pandemie will Gaston noch näher am Publikum dran sein. In Zukunft, glaubt er, wird es bei Veranstaltungen noch mehr um Begegnungen gehen.

Normalerweise interagieren sowohl Gaston als auch Jacqueline viel mit dem Publikum und holen es auf die Bühne, integrieren es ins Programm. Jacqueline will dabei auch Genderfragen aufwerfen, Repräsentation und Vielfalt schaffen. Um eine weiblichere Taille zu bekommen, helfen Gaston Body, Korsett und High Heels. Zum Schluss setzt er eine blonde Perücke auf. Von diesen Moment an ist Gaston immer voll und ganz Jacqueline: die Stimme heller, der Gang dynamischer, die Gestik und Mimik femininer - wie eine Grande Dame aus dem französischen Cabaret. Das schafft der Künstler mithilfe einer Technik, die er beim Schauspielunterricht gelernt hat: Masken-Trance. Jaqueline ist selbstbewusster, humorvoller und auch ein bisschen frecher. "Beim Singen kann ich Corona vergessen", sagt sie.

"Bonjour mon amour", begrüßt Jacqueline ihren Dozenten Götz Hünnemeier. Es ist ihre zweite gemeinsame Gesangsstunde, heute proben sie eine rockige Version von Zarah Leanders "Kann denn Liebe Sünde sein?". Das Studio in Bruck ist bereits fertig dekoriert, drei Kameras laufen.

Jacqueline ist voll in ihrem Element. Mit französischem Akzent singt sie in eine der Kameras. Gitarrist Götz unterbricht, der Rhythmus stimmt noch nicht ganz. "Aber das kriegen wir noch hin", versichert er. Nach der Gesangsstunde kommt die blonde Perücke sogleich runter - und aus Jacqueline wird wieder Gaston, der sich um die Mathehausaufgaben und den Haushalt kümmert.

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Quelle:
SZ vom 11.03.2021
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