Süddeutsche Zeitung

Flüchtlingskinder in Schulklassen:"Nichts außer Angst im Gesicht und traurige Augen"

Immer mehr Flüchtlingskinder kommen in Bayern an. Viele sind traumatisiert, depressiv oder suizidgefährdet - und damit eine Herausforderung für die Schulen, die sie besuchen sollen.

Von Tina Baier

Dominik Bauer kann sich noch genau an den Brief erinnern, in dem einer seiner Schüler seine Flucht aus Somalia nach Deutschland beschrieben hat. Der 17-jährige Junge schildert darin, wie sein Vater in Somalia umgebracht wurde und wie er dann gemeinsam mit seinem Onkel zu Fuß aufgebrochen ist. Er beschreibt seine Erlebnisse in einem libyschen Gefängnis und wie die Menschen auf einem überfüllten Flüchtlingsboot anfingen, Salzwasser zu trinken und einer nach dem anderen starb. Bauer ist Lehrer in einer "Übergangsklasse". Kinder, die kein Deutsch sprechen, sollen dort die Sprache lernen, damit sie später in einer Regelklasse dem Unterricht folgen können.

"Es kommen immer mehr Flüchtlingskinder nach Bayern, die schwer traumatisiert, depressiv oder sogar selbstmordgefährdet sind", sagte Klaus Wenzel, Präsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV) am Mittwoch auf einer Pressekonferenz zur Situation von Flüchtlingskindern an den bayerischen Schulen. Viele Schulen könnten den Ansturm nicht mehr bewältigen und bräuchten dringend Hilfe. "Es mangelt an allem", sagte Wenzel. "Die Kinder stehen vor der Tür und haben nichts außer Angst im Gesicht und traurige Augen."

Um die Situation in den Griff zu bekommen, fordert der BLLV von der bayerischen Staatsregierung ein Notprogramm von zehn Millionen Euro. Schulen, die Flüchtlingskinder aufnehmen, bräuchten ein ganzes Team von Fachleuten, um die Situation bewältigen zu können. "Die Lehrerinnen und Lehrer sind auf diese Krisensituation nicht vorbereitet", sagte Wenzel. "Die meisten wollen helfen, stoßen aber angesichts des unsagbaren Leids und der fehlenden Unterstützung an ihre Grenzen." Beispielsweise gebe es viel zu wenige Sozialpädagogen und Schulpsychologen.

"Wenn wir den Verdacht haben, dass ein Kind traumatisiert ist, dauert es momentan drei bis vier Monate, bis das Kind einen Termin beim Schulpsychologen bekommt, sagte Henrik Schödel, Leiter der Sophienschule in Hof. Eine große Hilfe wären seiner Erfahrung nach auch Dolmetscher, auf die die Schulen zurückgreifen könnten. Erst neulich standen bei ihm mehrere Kinder mit ihren Eltern vor der Tür. "Kind Schule" war das einzige, was eine der Mütter auf Deutsch sagen konnte. Schödel bekam die Situation in den Griff, in dem er die Mutter eines Schülers zu Hilfe rief, die übersetzen konnte.

Ein großes Problem ist offensichtlich auch, dass die Übergangsklassen in Bayern mittlerweile hoffnungslos überfüllt sind. Als Folge müssen Kinder, die kein Deutsch können, in ganz normalen Klassen untergebracht werden. Dort sitzen sie aber oft nur die Zeit ab und lernen nichts, weil sie überhaupt nicht verstehen, was die Lehrerin sagt.

Das Kultusministerium hat die Zahl der Übergangsklassen in diesem Schuljahr zwar von 235 auf 300 erhöht. Doch das reicht offenbar nicht. Henrik Schödel zum Beispiel würde an seiner Schule gerne eine zweite Übergangsklasse einrichten. "Im Juli waren 19 Kinder in der Ü-Klasse", sagt er. Anfang des Schuljahres standen sieben weitere vor der Tür und vorgestern sind noch einmal zwei dazugekommen." Einen Antrag hat Schödel bereits gestellt. Doch ob es klappt, ist mehr als ungewiss. Das zuständige Schulamt hat nämlich derzeit keine Lehrer, die die neue Klasse unterrichten könnte.

Nach Ansicht von Klaus Wenzel sollten in keiner Übergangsklasse mehr als 16 Kinder sitzen. Ideal wäre, wenn wenigstens zeitweise zwei Lehrer unterrichten würden. Denn die Voraussetzungen der Kinder in diesen Klassen sind sehr unterschiedlich. Die einzige Gemeinsamkeit ist, dass sie kein Deutsch sprechen. "Kinder, die noch nie eine Schule besucht haben, sitzen neben Schülern, die Tolstoi auf Russisch lesen", sagte Bauer.

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SZ vom 16.10.2014/infu
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