Süddeutsche Zeitung

Flüchtlinge in München:"Es ist einfach alles Chaos"

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Zeltlager, Altenheime und Gewerbeobjekte dienen als Unterkünfte: Die Situation für Flüchtlinge wird in München immer dramatischer. Selbst die Verantwortlichen verlieren den Überblick.

Von Bernd Kastner, München

Die Lage für Flüchtlinge spitzt sich dramatisch zu. Asylsuchende in der Münchner Erstaufnahmezentrale Bayernkaserne berichten, dass sie tagelang im Freien genächtigt hätten und nicht oder unzureichend mit Decken versorgt worden seien. Im Jugendcamp Kapuzinerhölzl hat das Technische Hilfswerk in der Nacht zum Samstag drei weitere Zelte aufgestellt. Diese wurden aber auf Drängen des Kreisjugendrings, der das reguläre Camp "The Tent" betreibt, nur eine Nacht belegt. Trotzdem leben dort rund 200 Asylsuchende, darunter auch Kinder.

Am Samstag quartierte die Regierung von Oberbayern 50 Flüchtlinge in einem Altenheim am Kieferngarten ein. Anschließend wurde ein Gewerbeobjekt Am Moosfeld in Trudering mit bis zu 400 Plätzen aktiviert. Der Fliegerhorst in Fürstenfeldbruck wird von 180 auf 600 Plätze ausgebaut, so ein Sprecher.

Insgesamt waren am Sonntag weit mehr als 4000 Flüchtlinge in der Erstaufnahme untergebracht, davon etwa 2300 in der Bayernkaserne. Genaue Zahlen liegen selbst der Regierung von Oberbayern nicht vor. Unbekannt ist auch die Zahl derer, die auf Registrierung und Bett warten.

"Es ist einfach alles Chaos momentan", fasst ein Behördeninsider die Lage zusammen. Offenbar verlieren die Verantwortlichen inzwischen den Überblick. Dass in der Bayernkaserne Flüchtlinge nicht mit Decken versorgt wurden, gilt auch intern als untragbarer Zustand. Dieser sei der Spitze der Regierung aber erst am Freitag bewusst geworden. Am Wochenende wurden zumindest Pavillons aufgestellt, um neu Angekommene, die auf ihre Registrierung warten, vor Regen zu schützen.

Der Penzberger Imam Benjamin Idriz organisierte angesichts der Not spontan eine Sammlung von Decken und Kopfkissen und brachte sie am Freitagabend in die Kaserne. Weil sich daraufhin sofort ein Menschenauflauf bildete, rief die Security die Polizei: Man sah die Sicherheit in Gefahr.

Unbegleitete Jugendliche leben unter prekären Umständen

Unter sehr prekären Umständen leben auch etwa 700 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in sogenannten Schutzstellen, für die das Stadtjugendamt verantwortlich ist. Derzeit kommen viele Jugendliche aus Eritrea und Syrien, die noch keine 16 Jahre alt sind, ohne Eltern an. "Es ist alles entsetzlich", sagte Jugendamtschefin Maria Kurz-Adam im Gespräch mit der SZ. Alle Wohngruppen und Heime seien "hoffnungslos überbelegt". Inzwischen dienen eine Turnhalle und ein Festsaal als Schlafstätten.

Weil teils die Sanitäranlagen nicht mehr ausreichen, mussten Dixi-Klos und Container zum Waschen aufgestellt werden. Um die jungen Menschen annähernd gesetzeskonform zu betreuen, muss das Jugendamt laut Kurz-Adam neben Honorarkräften auch Ehrenamtliche engagieren, die mit Fachleuten in Teams arbeiten. Es sei nicht mehr möglich, ausreichend reguläre Mitarbeiter zu rekrutieren.

Kurz-Adam räumt ein, dass sie keine Idee mehr habe, wie ihr Amt alleine eine tragfähige und langfristige Versorgung gewährleisten solle: "Ich schaffe es nicht, jede Woche 70 neue Jugendschutzplätze zu eröffnen." So viele junge Flüchtlinge kommen aber in München an. In seiner Not weicht das Jugendamt auf Hotels im ganzen Großraum sowie Freizeitstätten aus.

Kurz-Adam fühlt sich vom Rest des Freistaates allein gelassen. Auch Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) beklagt, dass der Großteil der jungen Flüchtlinge von München versorgt werden muss, weil andere Kommunen in Bayern trotz monatelanger Appelle noch immer kaum eigene Plätze geschaffen hätten. Dies müsse sich sofort ändern, fordert Reiter von Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU). Die Staatsregierung müsse für eine gerechtere Verteilung über ganz Bayern sorgen.

Sorgen macht man sich in der Stadt auch wegen wachsender Ressentiments in der Nachbarschaft der überbelegten Unterkünfte. Zunehmend höre man ablehnende, mitunter rassistische Äußerungen. Zugleich aber wächst auch die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung. Unzählige Münchner helfen Flüchtlingen mit Sachspenden oder ehrenamtlichem Engagement.

Zahlreiche Organisationen in und um München helfen Flüchtlingen, sie bitten um Geld- und Sachspenden und suchen Ehrenamtliche. Eine Liste von Vereinen und Gruppen hat die SZ im Internet zusammengestellt: www.sz.de/asylhelfer

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Quelle:
SZ vom 13.10.2014
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