Süddeutsche Zeitung

Flüchtlinge:Geflüchtete Frauen finden in Wohnprojekten endlich Sicherheit

  • In den Gemeinschaftsunterkünften haben viele Frauen Angst vor Übergriffen.
  • Sicherheit finden sie in speziellen Wohnprojekten, von denen es in München verschiedene gibt.
  • Doch der Platz in den Einrichtungen ist begrenzt.

Von Anna Hoben

Manchmal kommen die Flashbacks, und mit ihnen kommt die Zeit für Tüte und Igel. Samira sitzt in einem Zimmer mitten in München, aber im Kopf ist sie in Afghanistan, und auf einmal ist alles wieder da: der Ehemann, der sie misshandelte und die Tochter zwangsverheiraten wollte, da war die noch ein zwölfjähriges Kind. Wer Samira, 31 Jahre alt, in solchen Situationen sieht, ohne sie zu kennen, könnte denken, sie erleide einen epileptischen Anfall.

Aber Samira weiß, was sie tun muss. Sie schnappt sich eine Tüte und atmet, mit jedem Aufblasen und Zusammensacken der Tüte wird ihre Atmung ruhiger. In ihrer Hand knetet sie den Igelball aus Holz, die Stacheln helfen ihr, sich selbst zu spüren. Und irgendwann dämmert es ihr, wo sie sich befindet: in Deutschland, in München, in Sicherheit.

Samira trägt eigentlich einen anderen Namen, der aber zu ihrem Schutz nicht in der Zeitung stehen soll. Wenn sie einen sogenannten Flashback erleidet, verfallen Stephanie Knott und ihre Mitarbeiterinnen nicht in Panik. Ein solches Wiedererleben früherer Gefühlszustände ist typisch für traumatisierte Menschen. "Wichtig ist, dass Samira allein wieder rauskommt", sagt Knott.

Sie leitet die Unterkunft Mirembe für besonders schutzbedürftige geflüchtete Frauen, die vor knapp zwei Jahren eröffnet wurde. Die Stadt hat den Verein Imma (Initiative für Münchner Mädchen) mit der Betreuung beauftragt; die katholische Kirche stellt das Gebäude zur Verfügung. 14 Frauen und elf Kinder leben zurzeit in dem Haus, weitere Plätze sind bei der Stadt beantragt. Für traumatisierte, psychisch und körperlich kranke Frauen.

Ein Dreivierteljahr war Samira auf der Flucht, eine Mutter mit drei Töchtern, die heute vier, sechs und 14 Jahre alt sind. Ihre zwei Söhne musste sie in Afghanistan zurücklassen, es zerreißt ihr jeden Tag das Herz. Drei Monate blieben sie in Griechenland, zwei Monate saßen sie in einem Gefängnis in der Türkei, danach durchquerten sie zu Fuß den Balkan. Eigentlich wollte Samira zu ihrem Bruder nach Frankreich; stattdessen landete sie in Deutschland, zunächst in der Erstaufnahmeeinrichtung in der Bayernkaserne. Nach ein paar Monaten vermittelte ein Dolmetscher sie an die Initiative Imma.

Das Projekt kann sich vor Anfragen kaum retten

Seit anderthalb Jahren lebt die Familie nun im Wohnprojekt Mirembe, das sich vor Anfragen zeitweise kaum retten kann. Mit den beiden kleinen Töchtern bewohnt Samira ein großes Zimmer, spartanisch eingerichtet, aber dekoriert in warmen Farben. Die große Tochter hat ein eigenes Zimmer bekommen. Mit 14 Jahren steckt sie mitten in der Pubertät. "Träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum", hat sie in Schnörkelschrift an die Wand über ihrem Bett geschrieben. Ein abgewetzter Sinnspruch, tausendmal gehört, ein bisschen kitschig. Aber für Samira und ihre Töchter fängt in München ein völlig neues Leben an, und da haben Träume eine andere Bedeutung als für den deutschen Durchschnitts-Mittelschicht-Teenie.

Samiras Traum: dass sie eines Tages als Schneiderin arbeiten kann. Und dass alle ihre Töchter in die Schule gehen und etwas lernen. Sie selbst besucht zurzeit einen Alphabetisierungskurs. Der Traum der 14-jährigen Tochter: Ärztin werden. Sie besucht die Realschule und ist eine gute Schülerin. Die Sechsjährige will Polizistin werden, die Vierjährige Lehrerin. So ist es jedenfalls diese Woche. Bei den beiden kleinen Mädchen wechseln die Träume noch recht häufig, wie das eben so ist mit den Träumen kleiner Mädchen.

Das Leben in den Gemeinschaftsheimen ist schwierig

Damals in der Bayernkaserne hatte die Familie kein abschließbares Zimmer. Es konnte vorkommen, dass nachts um zwei Uhr ein wildfremder Mann hereinplatzte. Die Situation in den Gemeinschaftsunterkünften habe sich seit vergangenem Jahr zwar verbessert, sagt Stephanie Knott. Trotzdem sei das Leben für Frauen dort alles andere als einfach. Oftmals gebe es keine abschließbaren Zimmer für Frauen, teilweise hätten Männer auch Zutritt zu ihren Sanitärräumen. Im schlimmsten Fall sind Frauen, die ohnehin schon traumatisiert sind, in der neuen Heimat sexuellen Übergriffen ausgeliefert.

Mirembe sei jetzt ihre Familie, sagt Samira. Hier hat sie nicht nur Sicherheit und eine Privatsphäre, hier gibt es auch Sozialpädagoginnen und eine Psychologin, die sich kümmern und sie auffangen. Aber auch der Gemeinschaft im Haus kommt eine wichtige Rolle zu. Hin und wieder kochen die Frauen zusammen, sie feiern christliche und muslimische Feste, machen therapeutisches Yoga oder nähen. Es gibt einen Gruppenraum und ein Spielzimmer für Kinder. Einmal pro Woche ist Hausversammlung, da geht es zur Sache, wenn jemand immerzu dreckiges Geschirr stehen lässt, nur so als Beispiel.

Im Monatsturnus werden Ämter vergeben, Präsidentin, Protokollführerin, Dolmetscherin, Spülmaschinendienst. Als "frei denkende und selbstständige Menschen" sollen die Frauen eines Tages die Unterkunft verlassen können, sagt Stephanie Knott. Auch Samira und ihre Töchter sollen irgendwann allein klarkommen in der neuen Heimat. Ein Ziel, von dem die Afghanin noch ein Stück entfernt ist. Bis dahin ist Mirembe das Beste, was ihr passieren konnte.

Auch Valin ist froh, dass sie einen Platz in der Unterkunft bekommen hat. Die 33-Jährige aus Uganda, ihr Name wurde für diese Geschichte ebenfalls geändert, liebt Frauen und musste deshalb ihre Heimat verlassen. Homosexuelle sind in Uganda Hass und Gewalt ausgesetzt, sie werden verfolgt und eingesperrt. Die Medien des Landes feuern den Hass mit einer Hetzkampagne an. Valins Stiefvater hatte ihr einen Mann geschickt, der sie vergewaltigte. Sie hatte ihren Job verloren und im Gefängnis gesessen. Ihren einzigen Ausweg sah sie in der Flucht nach Europa.

Über Stationen in den Niederlanden und in Schweden kam Valin 2015 nach Deutschland. Bei der Münchner Beratungsstelle für lesbische Frauen, Letra, fand sie Unterstützung, die Beraterinnen stellten auch den Kontakt zu Mirembe her. Zuvor hatte Valin bereits in vier verschiedenen Unterkünften gelebt; einfach sie selbst sein konnte sie nirgends.

Seit fünf Jahren unterstützt Letra geflüchtete Lesben, vor allem mit psychosozialer Beratung. "Oft gibt es einen verinnerlichten Selbsthass", sagt Sprecherin Rita Braaz. Die Frauen fragten sich: Bin ich vielleicht doch krank? Bin ich sicher hier? Kann ich mich outen? "Die Angst hört hier nicht auf." Die Beraterinnen versuchen, die Frauen in ihrer Identität zu bestärken, sie vermitteln Therapien und erleichtern den Zugang zur LGBT-Community, der Gemeinschaft von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender.

Die Flüchtlingswelle der vergangenen beiden Jahre hat auch Letra mehr Klientinnen gebracht. Die meisten stammen aus Uganda, ein paar aus dem Senegal, aus Mali und aus dem Kosovo. In Gemeinschaftsunterkünften haben Lesben ein doppeltes Problem. Erstens, weil sie Frauen sind. "Sie werden in den Unterkünften immer erst mal als potenzielle Sexualpartnerinnen gesehen", sagt Rita Braaz. Zweitens, weil sie lesbisch sind. "Viele Flüchtlinge stammen aus homophoben Kulturen." Immer wieder musste Valin bohrende Fragen von Mitbewohnern beantworten: "Woher kommst du? Uganda, da ist kein Krieg. Warum bist du hier? Warum bist du allein? Warum hast du keinen Mann?" Valin sagte nur: "Ich habe meine Gründe."

Mit dem Leben in München kommt die Freiheit

Mit der Wahrheit herauszurücken, mit jemandem über ihre Identität zu sprechen - unmöglich. Nur einmal war da dieser junge Mann, immer schweigsam, immer verschlossen. Eines Tages sah sie ihn im Schwulenzentrum Sub. Er erschrak. "Bitte sag es niemandem", bat er. Sie lächelte, sagte "ich auch", und seitdem teilten sie dieses Geheimnis. Als ein Attentäter im Juni bei einem Anschlag in einem Schwulenclub in Orlando 49 Menschen erschoss, saß Valin mit anderen Geflüchteten vor dem Fernseher. Sie fühlte eine unendliche Traurigkeit. Da legten die anderen los. "Sie sagten, die Opfer hätten es verdient, sie seien krank und unmenschlich." Valin schluckte, entgegnen konnte sie nichts.

Im vergangenen Sommer ist sie zum ersten Mal in der Parade beim Münchner Christopher Street Day mitgelaufen. Stephanie Knott von Mirembe hatte die Frauen im Haus damals gefragt, ob sie mitkommen wollen, einfach so. Auch Samira aus Afghanistan. "Gib mir zwei Jahre in Deutschland", hatte die geantwortet, "dann komme ich mit."

Mirembe ist übrigens Ugandisch. Das Wort hat verschiedene Bedeutungen: Unabhängigkeit, Freude, Frieden, Freiheit.

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SZ vom 21.11.2016/vewo
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