Süddeutsche Zeitung

Flüchtlinge:Anwerben statt ausweisen

  • Handwerksbetriebe suchen dringend Nachwuchs und Fachkräfte. In Bayern konnten insgesamt etwa 10 000 Ausbildungsplätze nicht besetzt werden.
  • Die Handwerkskammer hat daher eine neue Zielgruppe entdeckt: Sie will Flüchtlinge anwerben.
  • Arbeitgeber haben jedoch immer noch Ängste und Vorbehalte. Auch die hohe Bürokratie macht es ihnen schwer, Flüchtlinge einzustellen.

Von Inga Rahmsdorf

Peter Rossmanith hat eine Stelle für einen Lehrling ausgeschrieben, wie jedes Jahr. Doch dieses Mal hat der Elektroinstallateur keinen Auszubildenden gefunden. Er hat noch nicht einmal eine Bewerbung erhalten. Rossmanith hat einen Familienbetrieb in München mit zwölf Mitarbeitern. Der Fachkräftemangel könnte für seine Firma zu einer existenziellen Bedrohung werden, sagt er.

Die Handwerkskammer (HWK) für München und Oberbayern sucht dringend Nachwuchs und Fachkräfte. Im laufenden Ausbildungsjahr konnten 1700 Lehrstellen im Handwerk in Oberbayern nicht besetzt werden. Hinzu kommen Schätzungen der HWK zufolge mindestens 6000 offene Stellen. Ein Drittel der Handwerksbetriebe würde gerne mehr Mitarbeiter einstellen. In anderen Branchen sieht es ähnlich aus. Bayernweit kommen auf 100 freie Lehrstellen durchschnittlich nur 84 Bewerber, insgesamt 10 100 Ausbildungsplätze konnten nicht besetzt werden. Und es ist wahrscheinlich, dass sich die Situation künftig nicht verbessern wird. Das Interesse an einer dualen Ausbildung sinkt, hinzu kommt der demografische Wandel, und die boomende Wirtschaft im Großraum München.

Das Potenzial der Flüchtlinge ist bisher ungenutzt

Die HWK hat daher eine neue Zielgruppe entdeckt. Sie will Flüchtlinge anwerben. Deren Potenzial ist bisher oft ungenutzt. Aus mehreren Gründen: weil es Vorbehalte gibt; weil es aufenthaltsrechtliche Hindernisse gibt; und weil Zuwanderung in Deutschland immer noch häufig als ein Problem gesehen wird, das es zu kontrollieren oder zu lösen gilt - und nicht als eine Chance, die es zu nutzen gilt.

Das wird auch deutlich auf einer Konferenz, zu der die Handwerkskammer gemeinsam mit dem Verein Europäische Metropolregion München geladen hatte. Es geht um die Frage, wie man mehr Flüchtlinge für eine Berufsausbildung gewinnen kann. Das Interesse ist offenbar groß, mehr als 250 Zuhörer sind gekommen. Und schon die Begriffe, die hier fallen, zeigen, dass in der Wirtschaft längst eine ganz andere Debatte geführt wird als vielerorts sonst in Deutschland.

Wirtschaft ist auf Zuwanderer angewiesen

Georg Schlagbauer, Präsident der HWK und CSU-Stadtrat, spricht davon, dass die Integration junger Flüchtlinge ein Gewinn sei: "Flüchtlinge erhalten eine Heimat. Wir erhalten eine kulturelle Bereicherung und unsere Wirtschaft die Chance, dem drohenden Fachkräftemangel entgegen zu wirken." Das klingt anders als lange Debatten über die Integrationspflichten. Erst diese Woche wetterte CSU-Ministerpräsident Horst Seehofer noch gegen "Wirtschaftsflüchtlinge". In der Konferenz ist dagegen die Rede von "Schätzen" und "Schatzhebern".

Die Wirtschaft steht unter Druck, sie ist auf Zuwanderer angewiesen, der Großraum München besonders, die wirtschaftliche Situation ist stark, die Arbeitslosigkeit niedrig. Die Konferenz will den Betrieben vermitteln, dass es hoch motivierte und engagierte Flüchtlinge gibt, die die Firmen für eine Ausbildung gewinnen können. Dass die jungen Menschen überhaupt so angepriesen werden müssen, zeigt auch, dass es immer noch nicht selbstverständlich ist, Flüchtlinge einzustellen.

Der Elektroinstallateur Rossmanith ist ein "Schatzheber". Er hat vor einigen Jahren einen jungen Mann als Lehrling eingestellt, der aus Afghanistan geflohen war und als Analphabet nach München kam. Er hatte Deutsch gelernt, einen Schulabschluss gemacht und die Ausbildung erfolgreich abgeschlossen. Rossmanith hat ihn danach übernommen, und er würde sofort wieder einen Flüchtling einstellen, aber er sagt auch: "Der Jugendliche muss sich darauf einlassen - und wir auch." Doch das fällt manchem Arbeitgeber offenbar noch schwer.

Dass es immer noch Ängste und Vorbehalte gibt, eine Somalierin oder einen Syrer einzustellen, erlebt Goran Ekmescic immer wieder. Der Sozialpädagoge arbeitet bei dem Münchner Volkshochschulprojekt "Flüchtlinge in Beruf und Schule" und hilft Schülern wie Umair Farooq, Fatema Mirzada und Hassan Mohamud einen Ausbildungsplatz zu finden. "Betriebe, mit denen wir seit Jahren zusammenarbeiten, nehmen immer wieder gerne Schüler von uns", sagt Ekmescic. Aber viele Arbeitgeber, die bisher keine Erfahrungen mit Flüchtlingen haben, sind verunsichert und fragen sich: Was erwartet mich? Wie kommt ein Pakistani bei meinen Kunden an? Funktioniert es im Team, wenn der Lehrling aus Afghanistan kommt? "Es braucht mehr Vertrauen", sagt Ekmescic, "aber das dauert."

Jahrzehntelang hat man Flüchtlinge zum Nichtstun verdammt

Deutschland braucht Nachwuchs und hat ihn längt im Land. Es sind Menschen, die nicht erst aufwendig angeworben werden müssen. Die oft große Gefahren und Anstrengungen auf sich genommen haben, um zu kommen. Doch statt ihnen alle Wege zu ebnen, um sie für den Arbeitsmarkt zu gewinnen, werden Diskussionen über Wirtschaftsflüchtlinge und Überfremdung geführt. Jahrzehntelang hat Deutschland Flüchtlinge mit einer restriktiven Politik zum Nichtstun verdammt. Es war fast unmöglich, einen geduldeten Flüchtling oder Asylbewerber einzustellen, auch wenn sie eine Ausbildung oder ein Studium abgeschlossen hatten.

Seit einigen Jahren werden die Gesetze gelockert, wenn auch in kleinen Schritten. Seit Januar dürfen Asylbewerber nach drei Monaten arbeiten. Sie bedürfen dafür aber der Zustimmung der Ausländerbehörde. Besonders für geduldete Flüchtlinge liegt vieles weiterhin im Ermessen der Behörde. "Wir brauchen Bürokratieabbau, beschleunigte Asylverfahren und Deutschkurse", fordert Wolfgang Wittmann vom Verein europäische Metropolregion München.

Flüchtlinge brauchen mehr Unterstützung

"An Willen und Leistungsbereitschaft fehlt es den jungen Menschen nicht", sagt Klaus Seiler, Leiter der städtischen Berufsschule zu Berufsvorbereitung. Wichtig sei aber, dass sie auch während ihrer Ausbildung unterstützt werden. Es fehlt eine Struktur, die Asylbewerber von der Einreise bis in den Arbeitsmarkt begleitet. Ein weiteres Problem sind die niedrigen Ausbildungsgehälter und hohen Lebenshaltungskosten in München. Wer nicht mindestens vier Jahre in Deutschland lebt, hat keinen Anspruch auf ausbildungsbegleitende Maßnahmen (ABH), Bafög oder Berufsausbildungshilfe. Von 2016 an soll diese Hürde immerhin gesenkt werden.

Die Handwerkskammer wie auch andere Wirtschaftsvertreter fordern zudem das 3+2 Modell: drei Jahre sicherer Aufenthalt während der Lehre und mindestens zwei Jahre danach. Viele Asylverfahren dauern sehr lang, wie bei dem Schüler Umair Farooq, der bereits seit über zwei Jahren in München lebt und im Sommer den qualifizierten Mittelschulabschluss machen will. Ob er in Deutschland bleiben darf, weiß er nicht.

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SZ vom 21.02.2015/tau
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