Flüchtlinge an Berufsschulen:"Die Flucht macht uns erwachsen"

Wie Integration gelingt, belegen die Projekte am Alice-Bendix-Schulzentrum in Schwabing

Von Melanie Staudinger

September vor zwei Jahren: Die Bilder vom Münchner Hauptbahnhof sind noch sehr präsent. Abgequälte, müde Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak, Senegal, Nigeria oder Eritrea schleppen sich aus überfüllten Zügen, am Bahnsteig warten schon Menschen, um sie willkommen zu heißen. Die einen klatschen und vermitteln den Neuangekommenen ein Gefühl von Sicherheit und dass sie nach Wochen der Flucht endlich erwünscht sind. Andere spenden Kleidung und Essen oder helfen am Bahnhof und den Notunterkünften aus. Heute leben viele dieser Flüchtlinge von damals in der Stadt, alle unter 25 Jahren gehen zur Schule. Alleine in den Berufsschulen gibt es 71 Klassen mit etwa 1300 Schülerinnen und Schülern, in denen die jungen Leute nicht nur Deutsch lernen, sondern auch ihre neue Heimat - und sei es nur auf Zeit - kennenlernen sollen und sich auf eine Berufsausbildung vorbereiten dürfen. In München gibt es eine Berufsschule nur für Flüchtlinge an der Balanstraße mit 21 Berufsintegrationsklassen. 50 weitere Klassen sind über 23 berufliche Schulen verteilt. Hier werden alle Geflüchteten unter 25 Jahren unterrichtet, die noch keinen Mittleren Schulabschluss haben. Die Schulen kämpfen mit einem Lehrermangel, ihre Schülerschaft ist sehr heterogen, die Angst vor Abschiebung geht um. Und doch zeigt sich nach dem ersten kompletten Schuljahr: Die Integration gelingt, wie ein Besuch am Alice-Bendix-Schulzentrum in Schwabing beweist.

Interkulturelles Kochen

Das interkulturelle Kochen gilt als Integrationsmaßnahme schlechthin. Menschen aus verschiedenen Ländern haben die Möglichkeit, die Speisen ihrer Heimat zu präsentieren. Beim Kochen und anschließenden Essen kommt man schnell ins Gespräch. Am Alice-Bendix-Schulzentrum läuft das Ganze noch intensiver ab. Denn hier ist die Fachakademie für Ernährungs- und Versorgungsmanagement zu Hause. Die Schülerinnen werden, wenn sie mit ihrer Ausbildung fertig sind, als Betriebswirtinnen arbeiten, leitende Funktionen haben oder als Fachlehrerinnen anderen Schülern etwas beibringen. Wenn sie also mit den Schülern der Berufsintegrationsklasse gemeinsam kochen, profitieren beide Seiten. Auf dem Speiseplan stehen zum Beispiel Köfte mit Tahina-Dip, Feta-Filo-Zigarren auf grünem Salat, Semmelknödel mit Champignonrahmsoße und Apfelstrudel mit Vanillesoße. Die Schüler der Berufsintegrationsklasse lernen nicht nur, wie man kocht, sondern auch, wie man einen Tisch richtig deckt, wie man Servietten faltet und welche Hygieneregeln es zu beachten gilt. Bedient werden später Lehrer und Schüler. Öffentlich zugänglich ist die Kantine nicht. Dafür bräuchten alle Köche ein Gesundheitszeugnis - und dafür reichen bei einigen die Deutschkenntnisse noch nicht aus.

Impressionen aus der Heimat

"Du malst einen Adler?", fragt Lehrerin Dorothea Töller ihren Schüler Suleyman Ahmed Bashir. "Ja, es ist ein schönes Tier aus meiner Heimat Pakistan", antwortet der 19-Jährige. Überall seien die Vögel dort. Sein Bild sieht aus wie das eines Profis. "Aber nein, ich male das erste Mal", sagt der junge Mann fast schüchtern. Er überlegt, wie er den Hintergrund gestaltet soll. Berge? Eine Sonne? Oder lieber nur Himmel und Gras? Er entscheidet sich für Letzteres, sonst würde das Bild doch zu kindlich wirken. Weiter hinten steht der 17-jährige Arif Abdullah Haidary. Er hält das Bild einer Taube in den Händen, die als Symbol der Schule für Integration und Frieden gilt. Neben Malen interessiert sich der junge Afghane fürs Schreiben. "Ich schreibe über gute und schlechte Sachen, die hier passieren, und schicke sie nach Afghanistan", sagt er. Damit die Leute dort mehr über Deutschland erfahren. Die Schüler der Berufsfachschule für Sozialpflege beeindruckt so viel Engagement. "Als ich so jung war, habe ich mich noch nicht mit weltpolitischen Problemen beschäftigt", sagt einer. Haidary meint dazu nur: "Die Flucht macht uns erwachsen."

Gemeinsam sportlich sein

In der Turnhalle wird derweil fleißig Fußball trainiert. Gerade tritt die Berufsintegrationsklasse 1 gegen die Berufsfachschule für Sozialpflege an. Lehrer Robert Ertl mimt den Schiedsrichter. Die Schüler stammen aus verschiedenen Ländern, in den Berufsintegrationsklassen wird Wert darauf gelegt, dass das sprachliche Niveau ein ähnliches ist, auf Nationalitäten wird keine Rücksicht genommen. "Die Schüler sollen hier so schnell wie möglich lernen, wie die Gesellschaft tickt", sagt Ingrid Wittmann, die Leiterin des Schulzentrums. Deshalb ist es auch schwierig, die Mannschaften für das schulinterne Fußballturnier zusammenzubekommen. Da im Schulzentrum Ernährung und Sozialpflege unterrichtet wird, gibt es einen großen Frauenüberhang. Nur in der Sozialpflege fanden sich genügend Männer für ein Fußballteam, ein Männersport eben. "Wir schauen, was die Schüler gut können, von welchen früheren Erfahrungen sie profitieren würden. Das gibt Selbstbewusstsein", sagt Havva Doksar. Die Lehrerin ist für die Berufsintegrationsklassen zuständig. Und die Geflüchteten spielen besser als ihre deutschen Altersgenossen: Sie gewinnen eigentlich jedes Spiel und werden wohl auch den schulinternen Cup holen.

Lehren und lernen

Im zweiten Stock wird auch gespielt, aber ein wenig anders. Die jungen Frauen haben Memory-Karten vor sich liegen. Sie müssen die Nahrungsmittel richtig benennen, den passenden Artikel und ein passendes Verb sowie die richtige Tageszeit dazu finden. Am Nebentisch legen die Schülerinnen die Ernährungspyramide: Wenig Fleisch ist gesund, dafür viel Gemüse. Und die dritte Gruppe beschäftigt sich mit Lebensmitteln und damit, was aus ihnen gekocht wird. "Die Schülerinnen der Berufsfachschule für Diätetik lernen, wie sie komplizierte Sachverhalte einfach erklären können, sodass es verständlich, aber nicht kindisch ist", sagt Lehrerin Christine Wieland. Und die Geflüchteten lernen Deutsch und erweitern ihr Wissen in gesunder Ernährung. Normalerweise trennen drei Stockwerke die beiden Klassen, die Schülerinnen sehen sich nicht. "Durch das gemeinsame Projekt aber haben sie sich kennengerlernt", sagt Wieland. Das Grüßen im Flur sei normal geworden, erste Freundschaften seien entstanden. Auch Wittmann hat positive Veränderungen bemerkt. "Wir wollen unsere Berufsintegrationsklassen nicht missen", sagt sie.

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