Weiden, junge Birken, Zwergmispeln - aus jedem Riss im Teer wächst und wuchert es grün. Nur die verblassten weißen Markierungsstriche erinnern an den ehemaligen Parkplatz. Inmitten all der Grünschattierungen leuchten Katharina Sieverdings großformatige Arbeiten auf. Manche gut sichtbar, andere hinter einem Buschdickicht verborgen wie die Aufnahme der Gedenkfeier zum Tod von Mao Tse-tung aus der Serie "Kontinentalkern (XXVI)". Das Plakatieren der elf Arbeiten sei eine mühsame Angelegenheit gewesen, sagt Kurator Florian Hüttner. Nicht nur weil die Düsseldorfer Fotokünstlerin darauf bestand, dass kein einziger Zweig abgeschnitten werden dürfe. Sondern auch weil die alten Plakatständer nicht mehr in bestem Zustand sind.
Viel Zeit braucht die Natur nicht, um sich Stadtgebiet zurückzuerobern. Der Parkplatz an der Seppstraße hinter der Wandelhalle in Bad Tölz gehört der Jodquellen AG. Hier parkten einst die Gäste des legendären Alpamare, das 1970 als erstes Freizeitbad Europas eröffnet wurde. 2015 wurde es geschlossen. Seither ist der Parkplatz verwaist. Stadt und Jodquellen AG schaffen es nicht, sich über die künftige Nutzung des gesamten Areals zu einigen. Erstere beharrt bislang auf einer touristischen Nutzung des Geländes, während Anton Hoefter, Chef der Jodquellen AG, auf dem Parkplatz gern Mehrfamilienhäuser bauen möchte. Für die gigantische Wandelhalle, in der früher die Kurgäste, Jodwasser trinkend, flanierten - mit 130 Meter Länge und 15 Meter Breite ist sie angeblich die größte ihrer Art in Europa - schwebt ihm eine Mischung aus Gastronomie, Tagungssaal und Wohnungen vor, plus einen Raum für Kunstschaffende.
Das alles muss man nicht wissen, um sich die Ausstellung der Galerie für Landschaftskunst (GFLK) anzusehen. Aber es erklärt, warum es mitten im top gepflegten Kurviertel der Stadt überhaupt so eine verwilderte Brache gibt. Seit 2012 stellt Hoefter die Wandelhalle dem Maler Florian Hüttner und der GFLK zur Verfügung. Der hat in den vergangenen zehn Jahren viele Künstler nach Bad Tölz geholt, darunter den Objekt- und Installationskünstler Mark Dion aus New York oder Thomas Kilpper aus Berlin. Manche seiner Künstlerkollegen setzten sich in ihren Arbeiten auch mit den historischen Nutzungen der Wandelhalle auseinander, um eine Diskussion über deren Zukunft anzustoßen.
Dieses Mal steht nicht die Halle, sondern der Parkplatz im Mittelpunkt. Den Anstoß zur Ausstellung mit dem Titel "Tod in Venedig" lieferte Michael Clegg, ein in Dublin geborener und in Deutschland arbeitender Künstler. Als er las, Thomas Mann habe von 1909 bis 1917 ein Landhaus in Bad Tölz besessen, rief er sofort bei Hüttner an. "Er fand, das könnte ein Ansatz für eine Ausstellung sei", erinnert sich Hüttner. Der gebürtige Tölzer fand die Idee eher abgenutzt. "Eigentlich wollte ich von Thomas Mann immer die Finger weglassen." Aber dann fiel ihm der verfallende Parkplatz ein, dessen morbider Charme doch gut zu Manns in Bad Tölz geschriebener Novelle "Tod in Venedig" passen könnte.
Jugendliche nutzten den Platz zum Abhängen, Obdachlose tauchen regelmäßig auf
Der Platz habe übrigens längst andere Nutzer gefunden, sagt der Maler, der im ehemaligen Konzertsaal der Wandelhalle sein Atelier hat. Jugendliche nutzten ihn als Treff zum Abhängen, auch Obdachlose tauchten regelmäßig auf. Abfälle bleiben liegen, Glasscherben auch. "Die entscheidende Frage für mich ist, was passiert hier, wenn der Parkplatz zum Ausstellungsort wird", sagt Hüttner. Kommt Kunstpublikum? Oder kommen nur die Obdachlosen, um Sieverdings Arbeit "Die Sonne um Mitternacht schauen" zu genießen. Werden die Kunstwerke die Ausstellung unbeschadet überstehen?
Für sein "freies ergebnisoffenes Experiment" hat Hüttner fünf Künstler eingeladen. Neben Sieverding auch Michael Clegg, der seit den späten 1970er Jahren mit Martin Guttmann zusammenarbeitet. Als Künsterduo "Clegg & Guttman" realisierten die beiden, damals in den USA lebend, im Jahr 1989 erstmals ihr Projekt "Die offene Bibliothek". In Bad Tölz bieten sie eine "Thomas Mann Public Open Library" in einer leicht angerosteten Vitrine, die Hüttner im ehemaligen Alpamare abgeschraubt hat. Inzwischen haben sich Idee und Kunstwerk längst verselbständigt - die Bücherschränke der offenen Bibliotheken findet man heute vielerorts. Ein Musterbeispiel für eine gut funktionierende soziale Skulptur.
Einen eher naturwissenschaftlichen Ansatz verfolgt Nana Petzet, die sich schon länger mit den Themen Lichtverschmutzung und dem damit verbundenen Insektensterben auseinandersetzt. Die in München geborene und in Hamburg lebende Künstlerin konzentriert sich auf die ehemaligen Parkplatzleuchten, die sie mit Folie unterschiedlich stark abgedunkelt hat. Ihr geht es darum herauszufinden, wie viele und welche Insekten die Lampen während der Nacht anfliegen und sterben. Die Auswertung erfolgt in einer eigens aufgebauten Versuchsstation in der Wandelhalle.
Dort findet sich auch eine Textilarbeit des jungen Künstlers Philipp Gufler, der queeren historischen Persönlichkeiten, in dem Fall König Ludwig II., nachspürt. Der weitaus größere Quilt, ein 17 Meter langer, mehrschichtig aufgebauter Siebdruck mit dem Titel "Vergänglichkeitswahn" , hängt draußen. Gufler, Mitglied des Forums Queeres Archiv München, setzt sich mit Memento-Mori-Darstellungen auseinander, kombiniert Hans Holbeins Totentanz-Holzschnitte mit Bildern, die von seiner Auseinandersetzung mit queerer Geschichte erzählen. Ob der zarte Stoff allerdings Gewitterstürmen standhält - Hüttner wirkt leicht besorgt.
Dem Dixi-Klo, das Nils Norman aufgestellt hat, wird das Wetter nichts anhaben. Das gute Stück passt zu Thomas Mann, der in seinen Tagebüchern wortreich seine Verdauungsprobleme festhält. Dem Londoner Künstler, der eine Professur an der Münchner Akademie hat, geht es allerdings auch, wie zwei Zeichnungen im Klo dokumentieren, um die Frage, wie menschliche Ausscheidungen sinnvoll kompostiert werden können.
Plötzlich steht man vor Sieverdings Aufnahme des Bombers Enola Gay, aus dem die erste Atombombe über Hiroshima abgeworfen wurde. Ein Film-Still aus dem Dokumentarfilm "Atomic Café" (1982) mit dem Schriftzug "Die letzten Knöpfe sind gedruckt" steht auf der eingeblendete Zeile. Irgendwie unangenehm aktuell die Arbeit. Ganz rechts oben am Plakatständer weist ein kleines Schild den Weg: "Ausfahrt. Wir danken für ihren Besuch."
Tod in Venedig. Ausstellung bis 31. August, Bad Tölz, Parkplatz frei zugänglich, Wandelhalle (Ludwigstraße 14) geöffnet Mi. bis So., 16 bis 20 Uhr, und nach Vereinbarung unter 0176/80 44 65 38. Infos unter www.gflk.de