Kino:Rein in den Schmerz

Kino: Kam beim Publikum am besten an: "Her Dance" von Bar Cohen zum Thema Transsexualität.

Kam beim Publikum am besten an: "Her Dance" von Bar Cohen zum Thema Transsexualität.

(Foto: Filmschoolfest Munich)

Autismus, Transsexualität, Suizid in der Familie - die Themen, mit denen sich der Regienachwuchs auseinandersetzt, sind vielfältig und intensiv. Ein Resümee zum Filmschoolfest Munich.

Von Anna Steinbauer, München

Dorthin gehen, wo es wehtut. Die unangenehmen Fragen stellen, die sonst keiner zu äußern wagt. Viele Filme der diesjährigen Jubiläumsausgabe des Filmschoolfests München legten den Finger in die offene Wunde und bohren dort ein wenig: Wie sieht es aus mit den demokratischen Grundwerten, mit den vermeintlich gleichen Rechten für alle? Wie fühlt es sich an, zu einer Minderheit zu gehören, Diskriminierung zu erfahren, um die Anerkennung der eigenen Identität zu kämpfen? Das ist unter Umständen unheimlich qualvoll, aber unendlich heilsam. Für alle Beteiligten inklusive des Zuschauers. Als Kollektiverfahrung im Kinosaal. Endlich mal wieder.

Nach einer rein digitalen Ausgabe kehrte das Filmschoolfest mit Präsenzveranstaltungen an den Ort zurück, an dem es einst gegründet wurde und wo es auch hingehört: in die Filmhochschule (HFF). Natürlich war diese auch wegen der Pandemie und der 2-G-Regelung nicht so offen und zugänglich wie gewohnt. Die Außentüren blieben verschlossen, das Sicherheitspersonal kontrollierte streng den Impfstatus, und die Festivallounge befand sich in einem provisorischen Zelt im hinteren Teil des HFF-Gartens. Die Masken wurden auch im Kinosaal nicht abgenommen.

Keine Zeit für ausgelassene Unbeschwertheit

Zur winterlichem Zeltlagerstimmung mischte sich eine gewisse Katastrophenerprobtheit. Es ist eben keine Zeit für ausgelassene Unbeschwertheit, das spiegelten die kleinen, weit auseinanderstehenden Menschengruppen und auch die Leinwandbilder wider. Es ist Zeit für politische Statements, schmerzhafte Erfahrungen und lehrreiche Konsequenzen.

Einer der intensivsten Beiträge des 46 Filme umfassenden Programms war die animierte Kurzdoku "Why Didn't You Stay for Me" von Milou Gevers, die auch den goldenen Studenten-Oscar 2021 gewann. Die Regisseurin stellt sich selbst und ihren vier jungen Protagonisten die oftmals tabuisierten Fragen rund um den Suizid eines Elternteils. Mit den Kindern teilt die Regisseurin die Erfahrung, einen nahen Angehörigen zu verlieren und damit klarkommen zu müssen. In kurzen Interviews geben die Kinder so offen und ehrlich, so schonungslos und existenziell Einblick in ihre Gefühlslandschaft, dass der Schmerz greifbar wird. Animierte Sequenzen, in denen das Alter Ego der niederländischen Regisseurin durch den Wald der Angst oder das Tal der Tränen wandert, fassen die Trauerarbeit in Bilder.

Kino: Trauerarbeit in Bildern: die animierte Kurzdoku "Why Didn't You Stay For Me".

Trauerarbeit in Bildern: die animierte Kurzdoku "Why Didn't You Stay For Me".

(Foto: Filmschoolfest Munich)

Dorthin, wo es weh tut, wagt sich mit vollem Körpereinsatz auch eine Krankenschwester in "When The Sun Sets" der südafrikanischen Regisseurin Phumi Morare. Sie kann ihren jüngeren Bruder, der sich in Johannesburg Mitte der Achtzigerjahre gegen die Apartheid engagiert, den Klauen der weißen Folterer gerade noch entreißen, zahlt aber selbst einen blutigen Preis dafür. Beeindruckend und wichtig ist die letzte Einstellung des Filmes: Die junge Frau erhebt sich unter furchtbaren Schmerzen und verlässt aufrecht, gestützt durch ihre Geschwister den Schauplatz des grausamen, rassistischen Verbrechens. Nicht als Opfer, sondern als Kämpferin für sich selbst und die eigenen Rechte geht sie aus der Geschichte hervor. Bilder und Erzählungen aus der Perspektive der diskriminierten Minderheit wie diese sind es, die unserer eurozentristischen Sichtweise entgegengesetzt werden müssen und unsere Weltwahrnehmung öffnen.

Viele solche Beiträge junger Filmschaffender aus aller Welt, die einzigartige Einblicke in andere Kulturkreise gewähren, waren auf der Leinwand im Audimax zu sehen: So begleitete man in dem nepalesischen Kurzspielfilm "Divination" einen alternden Schamanen, dessen Heilkräfte schwinden, oder man lauschte den Geräuschen von Pflanzen in "Plant Speech", einer experimentellen, höchst amüsanten Doku aus Trinidad and Tobago. Schwer zu verkraften ist die Tatsache, dass Menschen mit Albinismus in Afrika oft Opfer von Gewalttaten werden, wie "75.000$" von Moïse Togo eindrucksvoll erzählt.

Kino: Ein alternder Schamane, dessen Heilkräfte schwinden, steht im Zentrum des nepalesischen Kurzspielfilms "Divination".

Ein alternder Schamane, dessen Heilkräfte schwinden, steht im Zentrum des nepalesischen Kurzspielfilms "Divination".

(Foto: Filmschoolfest Munich)

Besonders bemerkenswert verhandelt der diesjährige Hauptpreisgewinner "Regime Chance" der russischen Regisseurin Yana Sad die ungewöhnliche Beziehung zweier Brüder, von denen einer autistisch veranlagt ist. Und spätestens wenn Transidentität die Verbannung aus der eigenen Familie bedeutet wie in Bar Cohens "Her Dance", dem diesjährigen Publikumspreisträger, oder als düsteres Geheimnis bewahrt werden muss wie im iranischen Beitrag "Congenital", wird das Private politisch.

Ob so eine Veranstaltung wie das Filmschoolfest in Zeiten der Digitalisierung noch zeitgemäß ist? Unbedingt. Wie wichtig sind doch die Kontakte für die Studierenden, die auf Festivals geknüpft werden, wie wertvoll die Verzahnung mit der Branche, die auf den Panels und Podien stattfindet. Mit dem "Munich Film Up!", einem neuen Mentoring und Residency-Programm, das die HFF München, das Filmschoolfest München und Filmfest München ins Leben gerufen haben, startet außerdem ein vielversprechendes Projekt für junge Filmemacher nach ihrem Hochschulabschluss. Und wie schön ist doch das Erlebnis, im Kino gemeinsam eine Träne verdrückt zu haben.

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