Filmprojekt:Der Herzschlag des Landes

Kurt Hartel, promovierter Physiker, hat in Eigenregie einen kinoreifen Film über die Musik Kubas gedreht. Er hat das Phänomen bis in die Tiefe ergründet - und ist keinem der gängigen Klischees aufgesessen

Von Martina Scherf

Mitten im Studio steht das Schlagzeug, daran hängt eine kubanische Flagge: blaue und weiße Streifen, weißer Stern auf rotem Dreieck. Ringsum Saxofone und Klarinetten, ein Kontrabass und ein Klavier. Die Wände schmücken Zeichnungen kubanischer Künstler, neben einer griechischen Aphrodite und einem bayerischen Gartenzwerg. Im Raum liegt ein dezenter Tabakgeruch. "Ich hoffe, das stört nicht", sagt Kurt Hartel und grinst. Er raucht gerne Zigarren. Da war er in Kuba am richtigen Ort.

Der Amateurjazzer hat einen kinoreifen Film über die Musik Kubas gedreht, in Eigenregie, selbst finanziert mit einem sechsstelligen Betrag. Sechs Jahre seines Lebens hat er diesem Projekt gewidmet. Er hat sich dem Land und seinen Menschen ohne jeden Voyeurismus genähert, lässt Musiker und Wissenschaftler von ihrer Musik erzählen, begleitet Jazzer, klassische Geiger, Schlagzeugerinnen, Tänzer und Kinder im Probenraum, im Konzertsaal und auf der Straße. Es ist ein 90-minütiger, leidenschaftlicher, absolut professioneller Film dabei entstanden. Hartel will ihn jetzt auf verschiedenen Festivals einreichen.

Filmprojekt: Eine Fahrt im Oldtimer gehörte für das Filmteam dazu.

Eine Fahrt im Oldtimer gehörte für das Filmteam dazu.

(Foto: Kurt Hartel/Lautrazfilm)

Seit Wim Wenders' Film über Ry Cooder und den Buena Vista Social Club hat die Welt ein Bild von der kubanischen Musik. Doch Kurt Hartels Werk geht musikalisch weit darüber hinaus, er hat das Phänomen bis in die Tiefe ergründet. "Ich bin als Jazzmusiker schon viel in der Welt herumgekommen. Doch so etwas wie in Kuba habe ich noch nie erlebt", sagt er.

Seit Jugendjahren spielt Hartel Tenorsaxofon und Schlagzeug in einer Jazzband. Mit seiner Frau lebt er in einem freistehenden alten Bauernhaus in Pallhausen bei Freising. Dort kann man nach Herzenslust Musik machen. Und am Ende einer Bandprobe im Jahr 2006, beim letzten Bier, sagte jemand: Wir könnten doch mal zusammen nach Kuba reisen. Soll ja so tolle Musiker dort geben. "Drei Wochen später waren wir dort", erzählt Hartel.

Sie lernten den Saxofonisten César López kennen, einen der besten Jazzmusiker Lateinamerikas. Er machte sie mit Kollegen bekannt, nannte ihnen Namen, Clubs und Konzerte, die sie unbedingt besuchen mussten. Sie begegneten an jeder Ecke talentierten Sängern und Instrumentalisten, "und da war mir klar: Über diesen Reichtum muss man einen Film drehen." So entstand "Musica Cubana - eine Geschichte, die erzählt werden muss".

Nun hat Kurt Hartel, Jahrgang 1946, schon vieles gemacht in seinem Leben. Der gebürtige Franke ist promovierter Physiker, hat in der Wissenschaft gearbeitet. Er ist passionierter Bergsteiger und Skifahrer. Er hat ständig neue "Projekte" im Kopf, wie er es nennt. Mal hat er in Immobilien gemacht, mal in Apfelwein, hat sich im Musikbusiness versucht und auch eigene CDs zusammen mit Profimusikern produziert. Er lässt sich ungern etwas vorschreiben, aber wenn er von einer Idee überzeugt ist, dann geht er in die Tiefe, stellt an sich und sein Team die höchsten Ansprüche.

Filmprojekt: Die Zigarre erinnert Kurt Hartel an Kuba.

Die Zigarre erinnert Kurt Hartel an Kuba.

(Foto: Marco Einfeldt)

So ist er auch das Kubaprojekt mit der ihm eigenen Gründlichkeit angegangen. Der Rhythmus der Claves ist der Schlüssel zur Kultur des Landes, "das war mir schnell klar". Dieses synkopische Klack-Klack-Klackklack der hölzernen Klangstäbe zieht sich als Leitmotiv durch den Film. Jeder Musiker, jede Tänzerin, jedes Kind auf der Straße hat diesen Rhythmus im Blut. Er wird hundertfach variiert. Er prägt das Ständchen der alten Herren an der Hotelbar und den treibenden Sound der Salsa-Big-Band. Und die Kamera ist immer mittendrin im Geschehen. Die Energie überträgt sich unmittelbar auf die Betrachter.

Die Rhythmen der afrikanischen Sklaven haben sich einst mit den Harmonien und Melodien der spanischen Kolonisatoren gemischt. "Und bis heute werden fremde Einflüsse integriert, ohne es groß Fusion zu nennen, einfach durchs Spielen", erklärt Hartel. Die Musik ist der Herzschlag des Landes. Eines Landes, in dem es mehr Musikschulen pro Einwohner gibt als in jedem anderen Land der Welt. Kostenlos.

"Die Rumba war die spirituelle Befreiung der Sklaven", erklärt eine Musikerin im Film, "und diese Freiheit spüren wir bis heute in unserer Musik." 300 Jahre lang war das Land von der Sklaverei geprägt. Heute drücken schwarze und weiße Kinder zusammen die Schulbank, spielen in derselben Band.

Filmprojekt: In seinem Film erzählen herausragende Musiker wie die Schlagzeugerin Yissy García von ihrer Musik.

In seinem Film erzählen herausragende Musiker wie die Schlagzeugerin Yissy García von ihrer Musik.

(Foto: Privat)

Kinder haben es Kurt Hartel besonders angetan. Bis heute unterstützen er und seine Frau die Kubanerin Marina Ruíz Garmendía, die auch im Film eine tragende Rolle spielt. Sie holt arme Mädchen und Buben von der Straße, lehrt sie die Comparsa, die Tänze des Karnevals, und vermittelt ihnen mit ihrer natürlicher Autorität ein Stück ihrer kulturellen Identität.

Hartel trägt jetzt auch zu Hause gerne eine Guayabera, das typische kubanische Leinenhemd mit Ziernähten und Taschen. Er raucht Zigarren. Und natürlich gibt es auch Bilder, wie er sich und sein Filmteam in einem pinkfarbenen Oldtimer durch Havanna kutschieren lässt. Doch er ist keinem der gängigen Klischees aufgesessen. Auch hat er jegliche politische Bezüge im Film vermieden. Vom verblassten Mythos der Revolution ist ebenso wenig die Rede wie von der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich oder vom Exodus der Künstler und Intellektuellen, die nicht länger auf bessere Verhältnisse warten wollen. Aber gerade weil sich Hartel ganz auf die Musik konzentriert hat, ist ihm ein Dokument von beeindruckender Intensität gelungen.

Als Mentor und Freund hat ihn Trickski-Legende Fuzzy Garhammer, erfahrener Sportfilmer, begleitet. Skript und Regie übernahm Hartel selbst. "Viele Szenen sind auch spontan entstanden, du kannst in einem solchen Land nicht alles planen", sagt er. "Und oft entstehen intensivere Momente, wenn du den Menschen Raum lässt, sich zu entfalten."

Zum Beispiel in dem Moment, als sich Emilio Morales, Pianist, Komponist, Arrangeur und Bandleader, an den Flügel setzt, um das Prinzip der Claves zu erklären. Klack-Klack-Klackklack schlägt er ein paar Tasten an. Und plötzlich beginnt er mit einer Nocturne von Chopin, um im nächsten Moment in einen wilden Ritt aus wechselnden Rhythmen abzudriften - ohne die Chopin'sche Melodie je ganz zu verlieren. Oder die Schlagzeugerin, die zur Bandprobe ihren vierjährigen Sohn mitbringt: Der nimmt ganz selbstverständlich und mit großem Ernst die Sticks in die Hand. Die Band beginnt zu spielen, die Mutter bedient das Schlagzeug, und er schlägt die Timbales. Im richtigen Takt. Oder das Mädchen in einem Hauseingang Alt-Havannas: Scheinbar unbeobachtet bewegt es sich rhythmisch und verträumt zu einem Lied, das nur in seinem Kopf erklingt.

Filmprojekt: Schon Kinder wachsen mit den Rhythmen des Landes auf.

Schon Kinder wachsen mit den Rhythmen des Landes auf.

(Foto: Privat)

Dass Hartel kein Spanisch kann, hat ihn bei den Dreharbeiten nicht gestört. Er hatte eine Dolmetscherin, aber "oft verbindet einen ja die nonverbale Kommunikation mehr als die Ratio", sagt der Physiker. Egal, wo er auf der Welt herumgekommen ist, Indien, Nepal, Kenia oder Kuba, "ich habe mich immer mit den Menschen verständigt. Als Bergsteiger oder als Musiker ist das leicht, da brauchst du keine Argumente. Du musst nur deine innere Festplatte löschen, Vorurteile und Klischees ablegen."

Sechs Jahre lang hat Hartel an dem Film gearbeitet. Mehr als 20 Mal war er auf der Insel unterwegs. Hat unzählige Hindernisse überwunden - und etliche Phasen, in denen er am liebsten hingeschmissen hätte. Weil er anfangs kein Arbeitsvisum bekam. Weil vereinbarte Interviews nicht zustande kamen. Weil Ideen sich nicht umsetzen ließen. Nach fünf Jahren Vorarbeit war es Ende 2017 wieder mal soweit. Er wollte aufgeben. Doch dann fand er den Kontakt zu einem kubanischen Filmteam. Und in fünf Monaten konnten sie den ganzen Film abdrehen. Die Postproduktion erfolgte zu Hause. "Kuba wäre nicht Kuba, wenn nicht aus unmöglichen Situationen plötzlich etwas Neues entstünde."

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