Film:Der Schmerz einer Nacht

"Das Hotelzimmer": Der Münchner Filmemacher Rudi Gaul inszeniert seinen zweiten Spielfilm als ein sinnliches Kammerspiel zwischen Mann und Frau - atemberaubend und voller Wahrheit

Von Nicole Graner

Ein Interview. Im Hotelzimmer. Die Kamera läuft und hält auf ein Gesicht. Auf ein schönes. Der Blick ihrer großen, braunen Rehaugen hat etwas Unschuldiges, Verletzliches. Und etwas Stolzes. Roter Lippenstift, rot lackierte Fingernägel, ein sinnliches Muttermal am Kinn, rote Pumps - ihr Gesicht und ihr Äußeres sind eine Mischung aus erfolgreicher Geschäftsfrau, sich sorgender Mutter und Femme Fatale. Ihr gegenüber der Journalist. Ein unsicher, schüchtern wirkender Mann. Keine Schönheit. Einer, den man - um das Klischee zu bemühen - in die Kategorie unzufriedener, erfolgloser Lehrer stecken möchte.

Er stellt seine Fragen. Mit unglaublich sonorer, warmer Stimme, aber unprofessionell. Ein Spiel mit Gegensätzen also: Schön, unscheinbar, erfolgreich, erfolglos. Und dann macht eine kurze Szene deutlich: Die Wirklichkeit wird eine andere werden. Nur ein paar Minuten später. Denn als die Frau ins Bad geht, schwenkt die Kamera des Journalisten mit. Zoomt Frau und Gesicht heran. Stalkt. Von diesem Moment an sind die Blicke der beiden Protagonisten andere. Sie offenbaren, dass sie andere Personen sind, als sie vorgeben, dass sie verdrängen, um zu überleben. Und dann beginnt der kammerspielartig inszenierte Psychothriller, in dem sich Mann und Frau an Erinnerungen abkämpfen, die Vergangenheit Wirklichkeit werden lassen. Und immer wieder die Frage: Wer erinnert sich am Ende richtig? Was ist wahr?

Film: Wer erinnert sich richtig? Agnes oder Lukas? Mina Tander und Godehard Giese beeindrucken mit einer großartigen Schauspielleistung.

Wer erinnert sich richtig? Agnes oder Lukas? Mina Tander und Godehard Giese beeindrucken mit einer großartigen Schauspielleistung.

(Foto: Kurshaus Produktion)

Rudi Gaul liebt dieses Spiel mit dem Klischee der Wahrheitssuche, er liebt Abgründe und die dunkle Seite des Menschen, die in jedem von uns stecke, wie er sagt. "Wer extrem liebt, ist immer nah am Abgrund." Gauls zweiter Spielfilm "Das Hotelzimmer", der 2014 mit dem baden-württembergischen Filmpreis ausgezeichnet worden ist, geht an die Nerven: Weil er die wunden Dinge des Menschseins offenlegt. Die Suche nach dem wahren Ich, die stete Angst vor dem Scheitern und dem Nichtgeliebtsein. Und weil er nicht so tut, wie der 33-jährige Münchner Filmemacher sagt, "als ob er die Wahrheit abbilden könnte".

Agnes (Mina Tander) und Lukas (Godehard Giese). Sie sind wie wir. Sie lügen, wenn sie in die Enge getrieben werden, sie benutzen das Gefühl des Anderen. Sie leiden, weinen. Jeder auf seine Weise. Genau das nimmt dem Betrachter dem Atem. Und wohl auch deshalb schlägt man sich unweigerlich auf die Seite eines Protagonisten. Denn: Man möchte die eine oder andere Wahrheit glauben. Einfach nur glauben.

Wie schwer es ist, einen Kinofilm zu vermarkten, der nicht den Mainstream bedient, der nicht auf die Steilvorlage eines erfolgreichen Buch bauen kann und der dadurch lebt, dass er die Risse des Menschseins nicht kittet, sondern offenlegt, davon kann Gaul ein Lied singen. Aber das hat er in Kauf genommen. "Ich wollte einen Genrefilm machen, ganz bewusst", sagt er. Ihm gehe es eben um jene Geschichten, die ihn selbst faszinieren. Nicht mehr und nicht weniger. Nur so könne er glaubwürdige Geschichten inszenieren. Gekämpft habe er um das "Hotelzimmer". Den Verleihern klar zu machen versucht, dass genau die psychologische, klaustrophobische Kraft des Films begeistern kann. Und er kann. Das haben die Reaktionen des Publikums auf der kleinen Kinotour gezeigt. "Eigentlich wussten die Besucher nicht, auf was sie sich da einlassen. Aber alle sind geblieben. Bis zum Schluss", sagt der 33-Jährige. Vielleicht, weil er so kämpfen musste, ist das Hotelzimmer sein wichtigster Film.

Film: Für den Filmemacher Rudi Gaul, 1982 in München geboren, ist das Drehen wie eine Sucht. Diese besondere Gefühl am Set will er am liebsten immer haben.

Für den Filmemacher Rudi Gaul, 1982 in München geboren, ist das Drehen wie eine Sucht. Diese besondere Gefühl am Set will er am liebsten immer haben.

(Foto: privat)

Wer glaubt, Rudi Gaul sei ein schwarz gekleideter, professoraler Typ, der nur in seinen Welten lebt, nur von sich sprechen kann, eitel und künstlerisch in sich selbst vernarrt den Abgesang auf den deutschen Film singt, irrt. Sehr sogar. Der Mann, der mit seiner dunklen Brille und unheimlich lebendigen, warmen Auge von seiner großen Leidenschaft erzählt, denkt zwar auch, dass der deutsche Film "kulturell in der Krise" stecke, weil er international kaum eine Rolle spiele, aber das Traurigsein darüber scheint ihn umso kreativer zu machen. Und der Familienvater von zwei Töchtern, der so offen und ungezwungen von der "Sucht des Filmens" erzählt, der als Kind nicht fernsehen durfte - außer Pumuckl bei den Großeltern - ist alles andere als ein selbstbewusster Medienspezialist. "Vor dem Publikum zu stehen, ist viel anstrengender als der Dreh", sagt der Filmemacher. Und fügt hinzu, dass er am liebsten gar nicht zu den Premieren seiner Filme gehe.

Schon als Gymnasiast dreht Gaul Filme. Woher diese frühe Begeisterung kommt? Das sei schwer zu sagen, meint er, da müsste man sich ja selbst auf die Couch legen, um das beurteilen zu können. Aber die Welten Winnetous, dessen Abenteuer er verschlungen hat, waren eine wunderbare Traumquelle. Und später Marilyn Monroe. "Some like it hot" war dann doch so etwas wie ein Auslöser. Ein Auslöser für eine jugendliche Monroe-Liebe und die ersten Versuche mit der Videokamera.

Im Hotelzimmer fließt am Ende Blut. Wessen Blut? Von Agnes? Von Lukas? Die Wahrheit bleibt verborgen. Nicht für Gaul. Seine Wahrheit sind die Familie und die Sehnsucht, schnell wieder zu drehen. "Diesen Zustand will ich immer wieder ganz schnell herstellen", sagt er. Und deswegen hat er schon wieder neue Ideen. Für den nächsten Psychothriller.

"Das Hotelzimmer", von Rudi Gaul, ist zu sehen am 30. November, 20.15 Uhr, im SWR. Die DVD ist von diesem Freitag, 13. November, an erhältlich.

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