Süddeutsche Zeitung

Feuerwehr München:"Nicht jeder ist dazu geboren"

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Kleinste Fehler können Leben kosten: Deshalb üben Einsatzkräfte in der Feuerwehrschule an der Aidenbachstraße, wie sie Menschen retten und selbst in schwierigen Situationen den Überblick bewahren.

Von Linus Freymark

Der Schrei kommt aus einem lang gezogenen Schacht in einer Ecke der riesigen Halle. "Hilfe, meine Hand!" Ein Arbeiter hat ihn abgegeben. Eine Betonplatte hat seine Finger eingeklemmt. Ein Baustellenunfall. Der Mann muss starke Schmerzen haben. Dann endlich: Das Blaulicht leuchtet. Kein Tatü-Tata. Die Feuerwehr ist trotzdem da. Männer mit schweren Stiefeln und Helmen springen aus dem Auto, laufen auf den Verunglückten zu. Getrampel, halblaute Rufe, das Stöhnen des Verletzten. "Zwei Mann zum Patienten!"Die Stimme des Gruppenführers durchdringt die Geräuschkulisse. Die Haut in seinem Gesicht ist noch glatt und trotzdem lastet auf dem jungen Mann die Verantwortung für den Einsatz. Kommt es drauf an, hängen von seinen Entscheidungen Menschenleben ab. Er wirkt angespannt - auch wenn das Szenario, das hier durchgespielt wird, nur eine Übung ist, Arbeitstitel: Tiefbauunfall.

In der Feuerwehrschule an der Aidenbachstraße läuft gerade die praktische Weiterbildung zum Gruppenführer. Die große Halle dient als Übungsplatz. Zerbeulte Autos, mit denen Einsätze bei Verkehrsunfällen trainiert werden, stehen herum. In einer Ecke befindet sich der Schacht, in dem die Bergung von Verunglückten simuliert wird. Alle Teilnehmer des Lehrgangs sind bereits als Feuerwehrleute im Einsatz, jetzt sollen sie in zwei Lehrgängen von jeweils sechs Wochen Theorie und Praxis lernen, um auch die Einsatzleitung zu übernehmen. "Als Gruppenführer ist man eine Führungskraft", erklärt Klaus Heimlich, Sprecher der Münchner Feuerwehr. "Nicht jeder ist dazu geboren."

Kommt die Feuerwehr zu einem Einsatzort, ist die Situation oft unklar. Was genau ist passiert? Wie viele Verletzte gibt es? Besteht eine Gefahr für die Retter? In kurzer Zeit müssen die Gruppenführer Antworten finden - und die richtigen Anweisungen an die Kollegen geben.

Ein Wimmern dringt aus dem Schacht. "Ich spür meinen Arm nicht mehr", flüstert der Verunglückte. Doch bevor die Feuerwehrleute mit der Bergung beginnen können, inspizieren sie die Umgebung. Einer leuchtet mit seiner Taschenlampe den Schacht ab, ein anderer sucht in einem danebenstehenden Autowrack nach Personen, die an dem Unfall beteiligt sein könnten und einer überprüft sogar, ob irgendwo Gas austritt. Nichts bleibt dem Zufall überlassen. Wie wichtig das sein kann, wird gleich deutlich.

Der Gruppenführer hat sich entschieden. "Wir machen einen Mehrzweckzug!", ruft er seinen Leuten zu. Mit Drahtseilen soll die schwere Betonplatte gesichert und dann mit einem Luftdruckkissen angehoben werden. Karabiner rasten ein, das aufblasbare Kissen wird unter die Platte geschoben. "Visiere nach unten", kommandiert der Gruppenführer. "Los!" Zischend schießt die Luft in das Kissen. Die Platte hebt sich. Nur ein bisschen, aber es reicht. "Patient ist frei!", heißt es schließlich.

München plant ein eigenes Ausbildungszentrum

Pressesprecher Heimlich hat früher selbst als aktiver Feuerwehrmann gearbeitet. Besonders schwierig sei es oft, den Impuls zu unterdrücken, sich sofort und ausschließlich um die Verletzten zu kümmern, sagt er. Denn die eigene Sicherheit oder eventuelle weitere Verunglückte dürften nicht vergessen werden. "Die Gruppenführer sollen dafür sensibilisiert werden", erklärt er das Ausbildungsziel.

Wie wichtig das ist, zeigt die Nachbesprechung der Übung. Zwar haben die Einsatzkräfte die Erkundung, wie es im Feuerwehrjargon heißt, durchgeführt - allerdings haben sie eine in dem dunklen Schacht liegende Puppe übersehen. Der angehende Gruppenführer, der den Einsatz geleitet hat, ist konsterniert. Eine Horrorvorstellung, dass so etwas in einem realen Einsatz passiert. "Die Erkundung war a bisserl halbscharig", kritisiert Ausbilder Walter Schluckwerder deshalb in kernigem Bayerisch. Schluckwerder und sein Kollege Mark Rappel sind gemütliche Typen, keine, die ihre Lehrlinge anmotzen oder laut werden. Aber sie legen Wert auf Präzision. Den Blick scharf zu halten, sei extrem wichtig, geben sie ihren Auszubildenden mit auf den Weg.

Wer in Bayern Feuerwehrmann oder Feuerwehrfrau werden möchte, erhält seine Ausbildung in der Regel an einer der drei staatlichen Feuerwehrschulen in Würzburg, Regensburg oder Geretsried. Die Stadt München jedoch leistet sich zusätzlich ein eigenes, aus kommunalen Mitteln finanziertes Ausbildungszentrum. Die Stadt wächst, und mit ihr der Bedarf an Feuerwehrleuten. Knapp 1600 Berufsfeuerwehrler gibt es derzeit, gut 1000 Ehrenamtliche engagieren sich bei der Freiwilligen Feuerwehr. Zehn Minuten nach einem Notruf müssen die Einsatzkräfte vor Ort sein, so schreibt es das Gesetz vor. Aber je größer die Stadt wird, desto schwieriger wird das und desto mehr Wachen und Personal braucht man, um diese Einsatzfrist einzuhalten. Rund 50 Auszubildende hat die Feuerwehrschule aktuell - nach wie vor ist ein Großteil davon männlich.

Neben den Lehrgängen und Weiterbildungen werden in der Feuerwehrschule auch Brandschutzübungen für Betriebe angeboten, bei denen die Feuerwehr den richtigen Umgang mit Feuerlöschern vorführt. Bisher sind solche Trainings freiwillig, aber schlecht wäre es nicht, wenn sie verpflichtend wären, sagt Klaus Heimlich. "Je früher ein Feuer bekämpft wird, desto leichter ist es zu löschen", meint er.

Eine halbe Stunde nach seiner Bergung bietet der verunglückte Bauarbeiter seine verletzte Hand einem Kollegen an. Die nächste Übung steht an, ein Hausmeister hat in den Aufzugsschlitz gefasst und steckt fest. Die Handattrappe aus Plastik hat viel zu tun an diesem Tag in der Münchner Feuerwehrschule.

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Quelle:
SZ vom 22.11.2018
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