Festival:Schmökern statt saufen

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Nur ein paar Sitzgelegenheiten und 3000 Bücher machen aus dem Odeonsplatz einen Treffpunkt für lesehungrige Kinder und Erwachsene. Das "Stadtlesen" zieht auch viele Touristen an. (Foto: Stephan Rumpf)

Beim "Stadtlesen" am Odeonsplatz finden auch Wiesn-Besucher reichlich Lektüre

Von Pia Ratzesberger

Man sieht dem Mann an, dass er ein anderes Ziel gehabt hätte. Er trägt eine Lederhose, einen Janker, statt eines Bierkrugs hält er nun ein Buch in der Hand. In 80 Tagen um die Welt, von Jules Verne. Er liegt in einem der großen Kissen auf dem Odeonsplatz, hat gerade angefangen zu lesen, zweite Seite. Die Reise im Buch hat noch nicht begonnen. Die Reise im Kopf aber schon. Alessandro Garcia sagt: "Ich wollte etwas mehr machen als nur saufen."

Sein dritter Tag auf dem Oktoberfest, in ein paar Stunden geht es wieder los, im Käferzelt. Aber bis dahin reist er nun mit Phileas Fogg um die Erde.

Er hat den Roman aus einem der zwei Bücherschränke auf dem Odeonsplatz geholt, die haben die Leute von "Stadtlesen" aufgebaut. Sie fahren durch Dutzende Städte in Deutschland, Österreich und der Schweiz, um die Menschen zum Lesen einzuladen, mit 3000 neuen Büchern - Geschenke von 125 Verlagen.

Viele Touristen kommen vorbei, Handy raus, Selfiestick nach oben. Stadtführer, Radfahrer, Familien, Museumsbesucher. Man hört die Busse, die Cafés. Die Stadt ist laut, aber die Menschen in der Bibliothek interessiert das nicht. Neben dem Wiesnbesucher hat sich eine ältere Dame in eine bayerische Komödie vertieft: "Anspruchslos, aber ganz schön." Ein Vater liest seinem Sohn aus einem Buch über Delfine vor: "Schon das zweite heute." Und ein Psychologe im Ruhestand blättert durch einen Roman über eine Frau in der Psychiatrie: "Ich war ja dafür verantwortlich, dass manche Menschen zwangseingewiesen wurden. Das lässt einen nicht los."

Man kann am Donnerstag sehen, wie schnell sich ein Platz verändern kann, wie schnell die Menschen ihre Stadt vereinnahmen, wenn man sie lässt. Es braucht zum Beispiel nur zwei Bücherschränke und ein paar Sitzkissen, um aus einem Ort, den die Menschen sonst nur überqueren, einen Ort zu machen, an dem sie sich treffen, verweilen. Eine Bibliothek mitten in der Stadt. "Dass es so schnell geht, kenne ich sonst eigentlich nur aus kleineren Städten, wo sonst nicht viel los ist", sagt die Leiterin der Tour von Stadtlesen, Sylvia Raab. Aber München ist in mancher Hinsicht eben auch eine kleinere Stadt.

Das Team von Stadtlesen baut seit zehn Jahren immer wieder seine Bücherschränke an neuen Orten auf, in dieser Zeit sind solche großen Bücherschränke in den Stadtvierteln zur Gewohnheit geworden. Allerdings mit einem anderen Prinzip, dass man ein Buch abgibt und ein neues mitnimmt - am Odeonsplatz führt deshalb zu Verwirrung, dass man die neuen Bücher nicht mit nach Hause nehmen, sondern nur lesen darf. Eine Frau hat bereits einen ganzen Stapel Bücher im Arm. Legt ihn dann schnell wieder zurück.

Bis in die Nacht hinein um 22 Uhr wird die Bibliothek an diesem Tag geöffnet sein, dann werden Sylvia Raab und ihre Kolleginnen die Rollos an den Buchschränken herunterziehen - was aber nicht bedeuten soll, dass man dann kein Buch mehr ausleihen könnte. Ein Wachmann für die Nacht übernimmt, und falls doch noch jemand lesen möchte, holt er das Buch aus dem Regal. Wenn Alessandro Garcia heute Nacht vom Oktoberfest nach Hause geht, aus dem Käferzelt, könnte er sich also wieder mit Jules Verne treffen, am Odeonsplatz. Aber er ist ohnehin noch nicht losgegangen. Er liest.

Das Festival "Stadtlesen" findet vom 3. bis zum 6. Oktober auf dem Odeonsplatz statt. Das genaue Programm mit Lesungen findet man unter stadtlesen.com/lesestaedte/muenchen

© SZ vom 04.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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