Festival "Out Of The Box 2022":Das Glück des Nicht-Verstehens

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Gebärden-Ballett im Autospeicher: Tänzer Jihun Choi vom "Ensemble Moving Borders" schwebt zur Musik des "O/Modernt Kammerorchesters" bei der Premiere von "Babel - A Ballet Of Signs". (Foto: Ralf Dombrowski)

Töne, Stimmen, Gesten - babylonische Sinnesverwirrung in einer Tiefgarage des Werkviertels.

Von Jutta Czeguhn, München

"One must have a mind of winter", ein seltsamer Satz ist das, mit dem Wallace Stevens sein Gedicht "The Snow Man" (1921) beginnen lässt. Ein kurzes Poem, in dem der amerikanische Dichter seine innere Verlorenheit in Bildern einer Winterlandschaft frostet. Sind es diese spröden Verse, die Rafael Grombelka in die Luft malt? Man glaubt, die Umrisse einer Tanne in seinen Gesten zu erkennen, das Rieseln des Schnees. Grombelka ist Gebärdenpoet, seit seiner Geburt gehörlos. Es ist das Überraschende, Herrliche an diesem rauschhaften Abend, dass gerade er es ist, der am Ende durch seine feine Körpersprache alle umherirrenden Sinne im Raum zu einem Glücksmoment einfängt.

Erzählt Gedichte mit dem Körper: Gebärdenpoet Rafael Grombelka im Dialog mit den Vokalistinnen der "Trondheim Voices". (Foto: Horacio Alcala und Marco Demichelis)

Der Raum, ja dieser Raum, er kann körperliches Unbehagen auslösen: Es geht hinunter ins dritte Untergeschoss einer autofreien Hotel-Tiefgarage im Werksviertel, gleich neben dem Riesenrad. Sichtbeton, gedrungene Säulen, tiefe Decken, die irgendwie tote Zeichenhaftigeit der Bodenmarkierungen. Ein total kunstwürdiger Konzertraum. "Babel - A Ballet of Signs" heißt das Auftragswerk, mit dem das Festival "Out Of The Box 2022" am Freitag begonnen hat. "Wir haben bewusst mehrere Ebenen des Verstehens und Nicht-Verstehens gleichzeitig im Raum", hatte Martina Taubenberger, Geschäftsführerin der "White Box", ihr Publikum zu Beginn "gewarnt". Weil man von ihr kreative zeitgenössische Formate abseits des Gewohnten und Gewöhnlichen erwartet, klang das aber eher nach einem Versprechen - das mehr als eingelöst wurde.

Umgeben vom Zeichen-Strudel

Der Komponist und Pianist Django Bates hat rauschhafte, schöne, verrückte Musik für die Festival-Premiere geschrieben. (Foto: Ralf Dombrowski)

Das Publikum hat auf dem Teppich zu bleiben, in der Garagen-Mitte, hingeflackt auf Yoga-Polstern, die Karton-Hocker sind gehörlosen Besucherinnen und Besucher vorbehalten, weil sie wie Trommelfelle die Schwingungen der entfesselten Musik aufnehmen, die Django Bates, das einstige Wunderkind des britischen Jazz, komponiert hat. Was die jungen Musiker des schwedischen O/Modernt Kammerorchesters und des Bern Art Ensembles aus seiner Partitur in den Raum schicken, ist furios, überraschend, lyrisch, ironisch, ekstatisch, ausgreifend wie die Tentakel einer Krake. Mal geht's fröhlich zu wie in Octopus's Garden, mal bis zur Schmerzgrenze krachend. Regisseur Axel Tangerding baut Orchester-Haufen und -Häufchen um das Publikum herum. Auch die großartigen Vokalistinnen der norwegischen Trondheim Voices und das Tanz-Ensemble Moving Borders zirkeln um den großen Teppich. Töne, Stimmen, Gesten - Basis sind Gedichte und Erzählungen von Wallace Stevens, T. S. Eliot, Pablo Neruda und Alessandro Baricco - verbinden sich zu einem Zeichen-Strudel, der die eigene Körperwahrnehmung mit sich reißt. Nicht-Verstehen wird hier zum glücklichen Common Sense.

"Der Körper ist der kürzeste Abstand", auf diese Formel bringt Martina Taubenberger ihr Festival, das sich nun fortsetzt mit "Digitaler Poesie" (23. bis 24. Juli) und der "Riesenradoper Umadum" (5. bis 7. August). Nach dem Abend in der Tiefgarage hat man eine leise, schöne Ahnung, was sie damit meint.

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