Ferientouren durch München:Molto lamentoso

Folgt man den Spuren der Musikgeschichte, muss man feststellen: München hat bis heute keine Philharmonie von Weltrang - aber dafür jede Menge zerstörte oder nie gebaute Konzerthäuser.

Von Christian Krügel

Ach, was hat das Münchner Bürgertum aufgejault, als ihm Ministerpräsident Horst Seehofer im Februar einen neuen Konzertsaal in München verweigern wollte. In all ihrer berechtigten Empörung über den vermeintlich wortbrüchigen Landesvater haben die Münchner Bürger nur eines übersehen: Es läge in der Tradition dieser Stadt, einen neuen Konzertsaal nicht zu bauen. Denn streunt man auf den Spuren der klassischen Musik durch München, stößt man vor allem auf Gewesenes. Und auf nie Gebautes.

Die Stadt kann heute keinen einzigen Saal von Weltrang vorweisen, dafür ganz viele zerstörte, umgebaute, für immer verlorene Glanzstätten der klassischen Musik. Und noch viel mehr großartige, größenwahnsinnige, aber nie verwirklichte Ideen für musikalische Weihetempel. Immer haben dabei Genies von Weltrang eine entscheidende Rolle gespielt, von Richard Wagner über Gustav Mahler bis Kurt Faltlhauser. Und immer hatten Herrschende in unterschiedlichen Geistes- und Erregungszuständen ihre Finger im Spiel, von Ludwig II. über Franz Josef Strauß bis eben Horst Seehofer.

Beginnt man diese Spurensuche oberhalb der Bavaria, findet man zumindest noch einen Originalschauplatz der Musikgeschichte, heute aber zugestellt mit historischen Fahrzeugen. In Halle 1 des heutigen Verkehrszentrums des Deutschen Museums ließ Gustav Mahler am 12. September 1910 seine achte Symphonie uraufführen. Zwei Jahre zuvor hatte der Architekt Wilhelm Bertsch die Ausstellungshallen als Eisenskelett-Konstruktion erbauen lassen. Eine davon wurde bald zur "Neuen Musik-Festhalle" umgebaut - Konzertsaalplanung ging damals deutlich schneller als heute.

Auch 1910 gab es einen Massenmarkt dafür: Denn Mahlers Uraufführung war ein kulturelles Großereignis, das Monate davor und danach die ganze Stadt bewegte. Maßgeblichen Anteil daran hatte eine geschickte PR-Strategie, die der Konzertagent Emil Gutmann austüftelte. Ihm war schon der Coup gelungen, Mahler überhaupt zu einer Uraufführung seines Werks in München zu überreden.

Der hatte arge Bedenken: Seine achte Symphonie ist ein Mammutwerk für drei Chöre, mehrere Solisten und großes Symphonieorchester - woher in München all die Musiker nehmen? Und Mahler machte sich akustische Sorgen: Die Halle war mit 23 Metern zu hoch und zu weit. "Es verliert sich alles ordentlich darin", sagte Mahler - 105 Jahre später gilt das für den Gasteig.

Eine Sternstunde der Musikgeschichte

Doch Konzertagent Emil Gutmann besorgte Chöre aus Wien, Leipzig und München, dazu das Konzertvereins-Orchester, die späteren Münchner Philharmoniker - insgesamt 1032 Sänger und Musiker. PR-Profi Gutmann nannte daraufhin Mahlers Sinfonie die "Sinfonie der Tausend" und plakatierte damit die ganze Stadt zu. Er erlebte einen gigantischen wirtschaftlichen Erfolg, Gustav Mahler einen musikalischen. Die Münchner applaudierten eine halbe Stunde, Richard Strauss und Thomas Mann jubelten Mahler zu - eine Sternstunde. Im Gegensatz zu heute hatte man damals sogar im Rathaus Gespür für so etwas: Die Stadtverwaltung wies die Trambahnfahrer an, während der Aufführung "langsam und ohne Glockenzeichen an der Neuen Musik-Festhalle" vorbeizufahren.

Die Festhalle wurde in den Jahrzehnten danach für alles Mögliche genutzt, zum echten Musiktempel wurde sie nie. Ein Schauplatz der Musik blieb die Theresienhöhe gleichwohl dank der 1952/53 erbauten Kongresshalle gleich nebenan. Nach der jüngsten Renovierung ist sie architektonisch wieder ansprechend, ein Akustikmeisterwerk war sie nie. Sie könnte aber noch zu Ehren kommen, wenn die Philharmoniker von 2020 an ein Quartier während des Gasteig-Umbaus brauchen.

Zerstörte Kultstätten der Klassik

1910 gab es viel mehr und bessere Säle in der Stadt als die Musikfesthalle, vor allem in der Maxvorstadt. Die war bis 1944 ein pulsierendes Zentrum der Klassik-Szene in Europa, also das, was München mit einem Konzerthaus wieder werden möchte. 38 Standorte hat der Freistaat dafür ja schon untersucht. Fährt man von der Schwanthalerhöhe in die Maxvorstadt, kommt man an einem halben Dutzend davon vorbei, inklusive Alter Botanischer Garten.

Dort stand bis zum Großbrand 1931 der Glaspalast, auch ein Ort, der fast mal Musikgeschichte geschrieben hätte - dazu später mehr. Von historischer Bedeutung ist der Sophiensaal im zweiten Stock des Landesamts für Steuern, fertiggestellt 1943. Im München der Nachkriegszeit war er Interimsquartier für den Landtag und einer der wenigen intakten Aufführungsorte - für die Philharmoniker genau wie für Schulorchester. Musikkritiker lästern bis heute über die miserable, trockene Akustik. Dennoch haben viele ältere Münchner den Saal in guter Erinnerung, hörten sie doch hier oft zum ersten Mal überhaupt klassische Musik nach dem Krieg.

Dieser Raum ist gewiss nichts im Vergleich zu den sagenumwobenen Wundersälen, die beide in der Nähe lagen: das Odeon und die Tonhalle. Beide waren Kultstätten der Klassik, beide wurden im Bombenkrieg zerstört. Angesichts der heutigen Konzertsaaldebatte fragt man sich, warum Initiativen für deren Wiederaufbau nie erfolgreich waren. Zumindest für das Odeon gab es Versuche, Franz Josef Strauß hatte Mitte der Siebzigerjahre persönlich die Rekonstruktion des Baus von Leo von Klenze angekündigt.

Es wurde nichts daraus, das Innenministerium hält bis heute die Hand drauf und residiert dort. Der klassizistische Saal im ersten Stock des Hauses muss mit seinen umlaufenden Arkaden ein akustisches Wunderwerk gewesen sein. Freilich, da darf man sich nichts vormachen, würde der Klenze-Bau den Anforderungen an den heutigen High-Tech- und Massenbetrieb der Klassikszene auch nicht mehr genügen.

Untergehender Schauplatz der Musikgeschichte

Dem wäre wohl eher mit dem Kaimsaal gedient, der ab 1905 Tonhalle hieß. Der Architekt Martin Dülfer erbaute ihn 1895 an der Ecke Türken-/Prinz-Ludwig-Straße im Auftrag von Franz Kaim für stolze 835 000 Mark. Der Geheimrat hatte sein eigenes Orchester gegründet, aus dem später das Konzertvereins-Orchester und sodann die Philharmoniker hervorgingen.

Man muss sich den Saal als gewaltiges, neobarockes Fin-de-Siècle-Bauwerk vorstellen und als kulturelles Multiplex. Es gab Restaurationsräume, ein Kabarett im Erdgeschoss und eben den großen Saal mit Orgel. Darauf spielte Max Reger, Gustav Mahler war auch hier zu Gast. Und unter den Zuhörern war regelmäßig Thomas Mann und seine spätere Frau Katja Pringsheim.

"Merkwürdigerweise ist es fast immer der Kaimsaal, wo ich Sie sehe - was daher kommt, dass ich Sie früher oft dort durch das Opernglas beobachtete, bevor wir uns kannten", schrieb Mann 1904 in einem Brief an sie. Im April 1944 wurde der Saal zerstört, derzeit wird gerade ein neumodischer Bürokomplex, das "Prinz-Ludwig-Palais", an der Stelle gebaut.

Nur einen Steinwurf weit entfernt wurde das kühnste nie gebaute Musikhaus Münchens ersonnen, in der Brienner Straße 21. Dort residierte 1864/65 Richard Wagner, Lieblingskomponist von Ludwig II. Der träumte ja von einem großen Wagner-Festspieltheater oberhalb der Isar und wollte phasenweise noch mehr: eine ganze Wagner-Achse quer durch München. Die Brienner und Hofgartenstraße hätten als Auffahrtsallee bis zur Isar verlängert werden sollen, auch ein weiteres Musiktheater, eingebaut in den Glaspalast, stand mal zur Debatte. Architekt Friedrich Semper entwarf und konzipierte eifrig dafür, aber wir wissen, wie die Sache endete: Die Münchner trieben den Spesenritter Wagner aus der Stadt, Ludwig brach es das Herz, er baute fortan lieber außerhalb.

Einige Spielstätten wurden doch gebaut

"Oh, die blinde Menge, die die Bedeutung dieses Werkes nicht fasst. Es will mir das Herz zerschneiden, wenn ich denken soll, dass der ersehnte Bau nie dort aufgeführt werden soll." So soll er geflucht haben, der enttäuschte König.

Könnte aber auch gut sein, dass der Satz von BR-Intendant Ulrich Wilhelm stammt, der wohl vergebens auf ein "Neues Odeon" im Finanzgarten hofft. Oder von Bariton Christian Gerhaher, dessen Traum vom Saal im Apothekerhof auch nicht gerade realistisch ist. Die Wehklage könnte auch von Ex-Finanzminister Kurt Faltlhauser stammen, der 2001 schon durch die Welt zog und den Umbau des Marstalls verkündete - bis heute ist der Klenzebau Requisitenlager und Studiobühne. Oder von all den Architekten, die eine Philharmonie mitten in die Isar stellen wollte. Vielleicht auch von Ex-Kunstminister Wolfgang Heubisch, der den Kongresssaal des Deutschen Museums vor dem Verfall retten wollte.

Dieses Konzerthaus ist das jüngste Beispiel eines untergehenden Schauplatzes der Musikgeschichte in München. Hier haben Igor Strawinsky und Leonard Bernstein dirigiert, Ray Charles und Oscar Petterson gespielt, Maria Callas genauso wie Nana Mouskouri gesungen - bei miserabler Akustik und schlechter Sicht fürs Publikum. Und doch ist es ein Kultort, der nun im Sanierungsstau des Deutschen Museums zum Lager verkommt und verstaubt.

Nun gut, ab und zu bauten die Münchner schon auch. Die Oper etwa, samt diverser Wiederaufbauten sogar dreimal; das Prinzregententheater, inklusive Sanierung gleich zweimal; den Gasteig - da fangen sie demnächst mit dem zweiten Durchgang an. Aber die Wunden der musikalischen Erinnerung klaffen deutlich in dieser Stadt. Und ob sie ein Neubau im Westen in einer Posthalle oder im Osten in einem Neubauviertel wird heilen können, muss sich erst noch zeigen.

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