Feinstaubzentrum Landshuter Allee:Leben in der Feinstaubhölle

Das Lüften kann hier zu einer Bedrohung für die Gesundheit werden. Zu Besuch bei Anwohnern der Landshuter Allee, die rund um die Uhr Lärm und Abgase ertragen müssen.

Von Wolfgang Görl

Der Mann hat es eilig. Muss allerhand erledigen, sagt er. "Sie sehen's ja". Zu sehen ist sein Auto, geparkt auf dem Gehweg, die Tür steht offen. Der Mann ist schon so gut wie eingestiegen, da wendet er sich nochmal um. "Na schön, fünf Minuten." Dann aber müsse er weg. Da gibt's kein Pardon.

Schnellstens verschwinden - vermutlich wollen das viele, die hier leben. Hier, an der Landshuter Allee, der weit über München hinaus bekannten Feinstaub- und Lärmschleuder. Im Schnitt brausen täglich 123.000 Autos durch dieses Teilstück des Mittleren Rings, 123.000 Motoren blasen ihre Abgase in die Luft, senden unentwegt Schallwellen gegen die Häuserfronten, in deren Inneren sich die Menschen verschanzen, so gut es geht.

In einem dieser Wohnblöcke, an der Ecke Ebenauer Straße, lebt also Franz Schlund, der Mann, der es so eilig hat. Vor 22 Jahren ist er mit seiner Frau hier eingezogen, in eine Mietwohnung im 1. Stock, ausgestattet mit einem Balkon, von dem aus man gut beobachten kann, wie Lkws aus Rumänien, kroatische Sattelschlepper, holländische Wohnwagen, niederbayerische Viehtransporter sowie die gewaltige Armada der Münchner Berufspendler die Brücke über die Dachauer Straße auf- und abwärts rollen. Nutzt Herr Schlund diesen Vorzug? "Wir gehen nie auf den Balkon", sagt er.

Balkonien mit Ohrenschützern

Man kann es verstehen. Um die Idylle Balkoniens zu genießen, bräuchte er Ohrenschützer, wie sie bei Arbeiten mit dem Vorschlaghammer üblich sind. "Wir haben 86 Dezibel im Schnitt", klagt Schlund. Und auf der Rückseite des Hauses sei es fast genauso laut, weil das in zweiter Reihe stehende Gebäude die Schallwellen reflektiere.

Schlund und die anderen Bewohner des Mietshauses sind einem akustischen Kreuzfeuer ausgeliefert, so als würden sie auf einer Verkehrsinsel leben. Tag und Nacht röhren die Motoren, hier mit besonders hoher Drehzahl, weil die Fahrzeuge den Anstieg der Brücke bewältigen müssen.

An dieser Stelle mit offenen Fenstern zu leben, wäre eine subtile Art der Selbstverstümmelung. Lüften ist hier nur im äußersten Notfall ratsam. Der Dauerlärm löst Stresshormone aus, die wiederum das Herzinfarktrisiko erheblich vergrößern.

"Wer sich ständig durch einen hohen Schallpegel belästigt fühlt, zeigt stark erhöhte relative Risiken für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, aber auch für Asthma und Bronchitis oder entzündliche Gelenkerkrankungen", sagt Christian Maschke vom Forschungsverbund Lärm und Gesundheit an der TU Berlin.

Sollte der Experte Maschke recht haben, müssten Straßen wie die Landshuter Allee vorsorglich für unbewohnbar erklärt werden. Oder die Bewohner nähmen freiwillig Reißaus. Doch nicht jeder kann sich eine Wohnung in verkehrsberuhigten Wohlstandsquartieren leisten, und wer passen muss beim Münchner Mietpreispoker, strandet unter Umständen am Mittleren Ring.

Man lebt dort hinter Schallschutzfenstern, und was an Frischluft in die Wohnung dringt, stinkt nach Benzin und staubt, während die Balkone zu Lagerstätten von Bierkästen veröden, denen einzig Parabolantennen mitunter Schatten spenden.

"Sicher ist das eine Belastung", sagt Franz Schlund. "Aber da ich in Rente bin, leb' ich im Sommer meist auf dem Land." Der Mann ist in der glücklichen Lage, über einen Dauercampingplatz zu verfügen. Mehr will er jetzt wirklich nicht verraten, außerdem sind die fünf Minuten Sprechzeit längst vorbei. Steigt ins Auto und rauscht ab. Vielleicht zum Wohnwagen auf dem Lande.

Die verkannte Prachtstraße

Die Landshuter Allee: Ohne die Blechlawinen hätte sie durchaus das Zeug zu einer Prachtstraße, zumindest der Abschnitt zwischen Donnersberger Brücke und Dachauer Straße, wo etliche mit Jugendstil-Motiven oder anderem Zierrat dekorierte Häuser die mehr als 60 Meter breite Trasse säumen.

Bäume in Zweierreihen auf jeder Seite verleihen ihr die Aura eines repräsentativen Boulevards, auf dem sich lustvoll unter kühlem Laubdach flanieren ließe - ohne Shoppingstress übrigens, weil das Sammelsurium aus Reisebüros, Videoverleihs, Getränkemärkten nur mäßig die Begehrlichkeiten weckt.

Dafür demonstriert das Entree an der Donnersberger Brücke seit einigen Jahren internationalen Business-Class-Schick, verkörpert durch das Danner-Forum, einem langgestreckten Bürokomplex mit exotischen Gärten und Kunst hinter monumentalen Glaswänden.

Weiter stadtauswärts geht es weniger glamourös zu, und auch dort, wo prächtig geschmückte Fassaden von der Wohnkultur um 1900 künden, liegt gleichsam ein Grauschleier über der Herrlichkeit, verursacht von Staub und Abgasen.

Auf alten Fotos ist noch zu sehen, dass es hier breite Grünflächen und baumbestückte Promenierwege gab, beiderseits flankiert von einer schmalen Fahrbahn. "Boulevard Neuhausen" wäre kein schlechter Name für die schon fast fürstliche Promenade gewesen.

Tatsächlich hieß sie ursprünglich Fabrikstraße, benannt nach der Lokomotivenfabrik Krauss, seit 1902 dann Landshuter Allee, ehe man ihr 1917 den Namen des damals populären Generalfeldmarschalls Hindenburg gab, was nach dem Zweiten Weltkrieg wieder rückgängig gemacht wurde.

Das Ende der Promenadenzeit

Ganz am Anfang aber, das war in der Mitte des 19. Jahrhunderts, präsentierte sich dieser Verkehrsweg nicht als Straße, sondern es verlief dort die Eisenbahntrasse München-Landshut.

Vorbei war die schöne Promenadenzeit, als die Landshuter Allee zu einem Teilstück des Mittleren Rings wurde. Inzwischen kennt jeder, der sich im Lande für die Feinstaubmisere interessiert, die Münchner Problemstraße, die eine rund vier Kilometer lange Schneise durch die Stadt schlägt.

Diese Berühmtheit verdankt die Landshuter Allee ihrem Anlieger Dieter Janacek, der es nicht weiter hinnehmen wollte, dass die gesundheitskritischen Grenzwerte beinahe regelmäßig überschritten werden. Im Jahr 2005 war das 107 mal der Fall, 2006 lag die Feinstaubbelastung 92 mal über dem Limit.

Zulässig wären 35 Grenzwertüberschreitungen pro Jahr. Der von Autos verursachte Feinstaub stammt überwiegend aus Dieselmotoren, aber auch der Abrieb von Reifen, Bremsbelägen und Asphalt mischt sich darunter. Er kann Atemwegserkrankungen verursachen, und sofern die einschlägigen Studien zutreffen, mindert er die durchschnittliche Lebenserwartung der Bevölkerung.

Die EU-Kommission geht von circa 310.000 Todesfällen europaweit aus, die jedes Jahr infolge der Feinstaubbelastung eintreten. Janacek, der auch Geschäftsführer der bayerischen Grünen ist, wollte diesen Befund nicht mehr schicksalsergeben hinnehmen. Und siehe da: Kürzlich hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig seiner Klage insofern recht gegeben, als es die Kommunen verpflichtete, selbst gegen die Luftverschmutzung einzuschreiten.

Feinstaub? Nein, sagt die alte Dame im Arbeitskittel, davon habe sie hier noch nichts gemerkt. Die Frau bearbeitet ihr Blumen- und Gemüsebeet in der Kleingartenkolonie des Männergesangsvereins Concordia, einem mit reichlich Obstbäumen, Ziersträuchern, Salat, Hütten und Zäunen bestücktem Areal an der Landshuter Allee.

"Die grüne Lunge im Herzen von Neuhausen", steht im Schaukasten des Vereins geschrieben. Schwer zu glauben, dass der Feinstaub in diese grüne Lunge nicht ebenso dringt wie in die menschliche. Aber die rüstige Kleingärtnerin hat da keine Sorge.

"Ohne Schallschutz kaum auszuhalten"

Was auf den Tische komme, werde ohnehin zuvor gewaschen. Und außerdem sei ihr Schrebergarten ja ziemlich weit weg von der Straße. Selbst der Motorenlärm klingt hier so verhalten, dass man ihn für das unentwegte Brummen eines Bienenstocks halten könnte. Man muss nur die Augen schließen und daran glauben.

Angelika Bienert hat hin und wieder größte Mühe, ihre Augen zu schließen und in den überfälligen Schlaf zu sinken. Sie ist Krankenschwester, hat häufig Nachtdienste, und wenn sie dann morgens um sieben nach Hause kommt, geht auf der Landshuter Allee der Berufsverkehr los. Zwar verschwindet ein Teil der Autos etwa fünfzig Meter vor ihrer Behausung im Tunnel, nicht aber jene, die parallel zur Haupttrasse fahren, was in den Stoßzeiten nicht ohne Stau abgeht.

Da wird gebremst und wieder angefahren, der eine drückt aufs Gas, der andere auf die Hupe. "Manchmal kann ich ewig nicht einschlafen", sagt Angelika Bienert. Ohne Schallschutzfenster wäre es kaum auszuhalten, mit ihnen tritt aber auch nicht gerade die Stille des Waldes ein. Seit 1987 wohnt die Familie hier, "in den letzten Jahren ist es aber immer schlimmer geworden", meint Ehemann Jürgen Bienert. Ausziehen und sich was anderes suchen? Bienert schüttelt den Kopf: "Das ist eine Geldfrage."

Heinz-Jürgen Aust wohnt mit seiner Familie Tür an Tür zu den Bienerts. Der Bauleiter Aust hat alle Funktionsräume zur Straßenseite hin verlegt, auf der sich aber auch das Schlafzimmer befindet. Anders ging es nicht, weil wenigstens die beiden Töchter ruhige Zimmer zur Hofseite haben sollten.

Der Schlafraum wird über das rückseitig gelegene Wohnzimmer belüftet. Das ist zwar nicht ideal, aber es funktioniert. "Vom Lärm kriegen wir wenig mit, was jedoch von Jahr zu Jahr mehr wird, ist der Feinstaub." Aust öffnet das Küchenfenster. Eine dünne Schicht Staub bedeckt komplett den Rahmen. Dabei habe seine Frau die Fenster erst vor wenigen Tagen geputzt. Trotzdem sagt er: "Wir können hier leben, sonst wären wir längst weggezogen."

Wahrscheinlich ist es so: Der Mensch gewöhnt sich an alles. Auch an das Leben an der Landshuter Allee. Ob der Feinstaub hier schon einige Bewohner vor der Zeit dahingerafft hat, lässt sich ohnehin kaum nachweisen. Der Staub auf dem Fensterbrett ist sichtbar.

Wer aber merkt schon, dass sich Staub in der Lunge absetzt? Und wer vermag zu erkennen, dass Wutanfälle und dauerhafte Nervosität eine Folge des Lärms sind? Überhaupt gibt es in der Landshuter Allee Leute, die sich souverän über die Gegebenheiten hinwegsetzen. Man sieht hier Frauen, die ihre Wäsche auf den Balkon hängen, praktisch direkt in die Feinstaubwolke.

Und dort, wo Franz Schlund wohnt, im Zentrum des Getöses, sieht man einen Balkon voller Grünzeug und Blumen, eine graziös wuchernde Zwei-Quadratmeter-Oase, die mit dem Weltwunder der hängenden Gärten der Semiramis in Konkurrenz treten könnte. Hier hat sich einer ein Paradies erschaffen - im Angesicht der Feinstaubhölle.

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