Goethes Faust hat zwei Teile. Das Faust-Festival hatte mehr als 600. Es zog mit Ausstellungen, Konzerten, szenischen Aufführungen und Hunderten anderen Veranstaltungen wie Lesungen und Vorträgen 220 000 Besucher an. Es ist nicht leicht, bei dieser Größenordnung Bilanz zu ziehen, will man nicht einfach Goethe selbst zitieren und seinen Direktor im "Vorspiel auf dem Theater": "Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen", heißt es da lakonisch.
Was hat es also gebracht außer "Menge", dieses Festival, das aus der Idee eines einzelnen Mannes - des Direktors der Kunsthalle, Roger Diederen - entstanden ist und das doch keinen einzigen Kurator hatte? Dieser radikaldemokratische Kunstgroßversuch, an dem sich alle beteiligen konnten, die wollten? Dass es Masse statt Klasse liefern würde, Beliebigkeit statt Tiefgang, war schon vor seinem Auftakt der am lautesten geäußerte Zweifel der Skeptiker. Eher leise traten die Neider auf. Sie stichelten gegen den vermeintlichen Coup, den Diederen da gelandet hatte, um seiner Faust-Ausstellung im eigenen Haus ein opulentes Rahmenprogramm drumherum zu bescheren. Doch das Verhältnis der Zahlen entkräftet derlei am Ende eigentlich: 100 000 Besucher haben die Ausstellung in der Hypo-Kunsthalle gesehen. Aber mehr als 120 000 haben die anderen Angebote des Festivals angenommen.
Youtube-Hit aus München:Goethes Faust in neun Minuten
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Angeboten wurden sie von "Partnern", so nannten und nennen die Veranstalter sich untereinander, schließlich läuft das Festival noch bis Sonntag, 29. Juli. So mancher Partner ist ein Mitstreiter der ersten Stunde. Denn angefangen hat alles vor zwei Jahren, mit einem "Faust-Frühstück". Zu dem hatte Diederen Kulturfreunde aus allen möglichen Genres eingeladen, quer durch seinen Adressenverteiler in der Kunsthalle. Hatte ihn doch eine Gruppe von Wissenschaftlern und Goethe-Gelehrten überzeugt, sich auf eine Ausstellung zum Thema "Faust in der Kunst" einzulassen. Und ihm war nach eigenem Bekunden, "bald klar, dass Faust ein viel zu wichtiges literarisches, musikalisches und theatrales Thema ist, um es allein mit Bildern, Skulpturen und anderen Exponaten bestreiten zu wollen".
Gerechnet hatte Diederen bei diesem ersten Termin mit etwa 40 Personen. Es kamen 100 in den vollkommen überfüllten, kleinen Saal. Und zu den Folge-Frühstücken, dann schon im Gasteig, weil dessen Chef Max Wagner ebenfalls auf Anhieb für die Sache entflammt und unterstützungsbereit war, kamen immer noch mehr. So offenkundig traf das klassische Drama um den rastlosen Kopfmenschen Faust, den klugen Verführer Mephisto und das sich selbst betrügende Opfer Gretchen den Nerv unserer Tage. Von der Katholischen Kirche bis zum Boxwerk, vom Harry Klein Club bis zum Residenztheater, von der Staatsoper bis zum Bierbrauer wollten sie sich alle beteiligen. Jeder fand seinen ganz speziellen Anknüpfungspunkt zum Sujet - egal, ob Gretchenfrage, Auerbachs Keller oder der Osterspaziergang.
Bald war interessant zu sehen, wer sich nicht beteiligen mochte. Die Staatsgemäldesammlungen etwa, die ihrerseits mit einem eigenen, spartenübergreifenden Großprojekt beschäftigt waren: der Klee-Ausstellung in der Pinakothek der Moderne. Oder wer nur zögerlich Unterstützung zusagte: das Kulturreferat der Stadt zum Beispiel. Es verfolgte nämlich ein anderes, mit einer hohen Summe städtischerseits gefördertes Festival, das fast zeitgleich am Start war: "Public Art Munich", kurz PAM. Dieses Festival der Kunst im öffentlichen Raum bestand aus 20 Auftrags-Perfomances und wurde zusammengestellt von der international renommierten Kuratorin Joanna Warsza. Der letzte Teil wird am 27. Juli im Neuen Rathaus zu erleben sein, doch es ist schon jetzt festzustellen, dass vieles von PAM leider unterhalb des Radars einer breiteren Öffentlichkeit stattgefunden hat. Obwohl der Eintritt frei war und viele der Veranstaltungsorte wie das Olympiastadion oder die Theresienwiese durchaus niederschwellig zugänglich gewesen wären.
Das Faust-Festival hatte dagegen zeitweise eine enorme Präsenz in der Stadt. Dazu trug auch bei, dass sich neben allerlei anderen privatwirtschaftlichen Akteuren die Hypo-Vereinsbank, deren Stiftung die Kunsthalle trägt, zu einer flankierenden Kampagne mit dem Schauspieler Axel Milberg in mehr als 90 ihrer Filialen in München und Umgebung entschloss. In deren Rahmen prangte auch ein riesiges Plakat für eine spezielle "Faust"-Kreditkarte über den Shoppern in der Theatinerstraße mit einem gewaltigen Mephisto-Kopf und dem Slogan: "Dafür wünschen uns die anderen zur Hölle."
So viel Selbstironie ist ungewohnt bei einer Bank, und ungewöhnliche Pfade haben auch andere mit dem Faust-Fest beschritten. Die Erzdiözese München und Freising zum Beispiel. Mit einem zehnteiligen, extrem arbeits- und auch finanziell aufwendigen Projekt hat sie sich unter anderem in der Pfarrkirche St. Margaret beteiligt. Der Pastoralreferent Erich Hornstein hat dafür zehn Künstler - "unabhängig von ihrer Kirchenzugehörigkeit", wie er sagt - in die Sendlinger Pfarrei geholt, die die Namensverwandtschaft zu Gretchen in sich trägt.
Und zu jedem Künstler und dessen Werk hat er auch noch einen Prediger gefunden, "der einen spirituellen Impuls dazu gegeben hat". Darunter waren Frauen ebenso wie Männer, Protestanten wie Katholiken und Laienprediger wie Ordensleute. Bei Weitem nicht alle Künstler haben in der großen Kirche an die klassische Gretchenfrage angeknüpft. Liz Walinski zum Beispiel, deren Papiertableaus und Klanginstallation noch bis Sonntag dort ausgestellt sein werden, griff lieber das Hexeneinmaleins aus Faust I auf: "Aus eins mach zehn ..."
Was aus dem Faust-Festival nun gemacht wird, ob es in der Stadt Fortsetzung finden kann, wird sich erweisen. Wenn es nach den drei Organisatoren Roger Diederen, Max Wagner, Gasteig-Chef und Unterstützer der ersten Stunde, und der Kulturmanagerin Anna Kleeblatt geht, dann soll es das jedenfalls nicht gewesen sein. Sie sagen: "Unsere Vision wäre, das Konzept weiterzutragen." Die erstmals entstandene Vernetzung zwischen so vielen unterschiedlichen Institutionen, die "Tauschbörse" von Veranstaltungsorten und künstlerischen Konzepten, all das dürfe in München nun nicht einfach wieder aufgegeben werden, finden sie.
"Liebend gerne würde ich auch andere Städte dazu ermutigen", sagt Anna Kleeblatt. Und in München selbst, so ist aus den Kreisen der "Partner" zu hören, sucht man schon seit Monaten fieberhaft nach einem neuen Thema, das in Zukunft ähnlich spannend und facettenreich behandelt werden könnte wie der Faust. Diskutiert wird über das Potenzial des Themas "Licht". Und auch ein Jubiläum rückt näher, das für die Stadt bedeutend und zugleich assoziationsreich ist: 50 Jahre "Olympia in München" im Jahr 2022.
Aber ob den Kollegen vom Bayerischen Rundfunk auch dazu zwei Dutzend Sendungen einfallen würden, wie zu Goethes Meisterwerk, das viele Schüler so sehr fürchten? Ob die Presse der Nachbarländer wieder so begeistert darauf mit einsteigen würde, wie beim deutschesten aller Dramen? Und ob sich dafür wieder jemand die Mühe machen würde, das Logo des Festivals von "Faust" in "Jesus" umzutexten, und damit in einer Guerrilla-Aktion die Stadt mit Aufklebern zu pflastern - das wissen nur die Götter. Doch eines ist klar: Dieses ganze Faust-Festival war und ist mehr als die Summe aller seiner Teile. Auch wenn diese Weisheit ausnahmsweise nicht von Goethe stammt. Sondern von Aristoteles.