Süddeutsche Zeitung

Falsche Scham:Sexueller Missbrauch - ein Verbrechen mit hoher Dunkelziffer

Weil Eltern und Opfer Gewaltdelikte nur selten zur Anzeige bringen, können sich Pädophile weiter ungestraft an Kindern vergehen.

Von Christian Rost

Die Tragweite im Missbrauchs-Fall Markus W. ist selbst für erfahrene Ermittler vom für Sexualdelikte zuständigen Dezernat 12 ungewöhnlich. Doch wie sich der 28-Jährige seine Opfer suchte, sei "klassisch". Gerade als Babysitter konnte er möglichst viel Zeit mit ihnen alleine verbringen.

Dies versuchen jedes Jahr auch Tausende von Stiefvätern, Onkeln und vermeintlich netten Nachbarn. Denn meist stammen die Täter aus dem direkten familiären Umfeld.

Falsche Scham deckt Täter

Etwa 16.000 Fälle von sexuellem Missbrauch werden jährlich in Deutschland angezeigt. Laut dem Verein "Dunkelziffer" stelle dies jedoch nur die Spitze des Eisbergs dar - tatsächlich rechnet man mit bundesweit 200.000 Missbrauchsfällen pro Jahr.

Das Gros der Verbrechen werde aus falscher Scham nicht gemeldet - und deshalb könnten sich Pädophile weiter ungestraft an Kindern vergehen. Hinzu kommen noch einmal geschätzte 200.000 Missbrauchsfälle, begangen von reisenden deutschen Tätern im Ausland. Besonders betroffen davon sind Länder wie Bulgarien und Rumänien.

Überdurchschnittlich viele Akademiker

Bei den Tätern handelt es sich zumeist nicht - wie in dem aktuellen Fall - um den arbeitslosen Hauptschulabsolventen, der orientierungslos durch die Gegend zieht und tapsig vorgibt, ein Praktikum zur Kindererziehung machen zu wollen. Der Anteil an Akademikern unter Pädosexuellen ist sogar überdurchschnittlich hoch. Opfer sind in drei Viertel aller Fälle Mädchen.

Bis Missbrauchsfälle überhaupt bekannt und die Täter verfolgt werden, dauert es oft Jahre. "Kinder reden über viele Dinge nicht", sagt Chef-Ermittler Peter Breitner.

In seiner Dienststelle werden in einem kindgerecht eingerichteten Raum jedes Jahr Dutzende Opfer vernommen, etwa 350 Fälle kommen in diesem Zeitraum zur Anzeige. "Manche Kinder können die Dinge auch gar nicht artikulieren", weiß der Kriminaler aus Erfahrung. Kinder, die jünger als drei Jahre seien, würden deshalb von der Polizei auch gar nicht erst vernommen.

Anzeichen erkennen

Für Eltern ist es oft schwierig, Veränderungen eines betroffenen Kindes richtig zu deuten. Stammt eine Verletzung vom Spielen oder von einem Übergriff?

Die erst 15 Monate alte Nicola konnte von dem, was ihr von dem Pädophilen angetan worden war, natürlich nicht berichten. Aber die Mutter bemerkte hier neben der Verletzung, dass sich das Mädchen eng an sie drückte, sobald sich Markus W. ihr näherte. Das war kurz nach dem Übergriff.

Ganz offensichtlich suchte das Kind bei seiner Mutter Schutz vor dem 28-Jährigen. "Solche Anzeichen sind Alarmzeichen", sagt Chef-Ermittler Peter Breitner. Die Mutter deutete dies richtig und ging mit der Kleinen zum Arzt und schließlich zur Polizei.

Misstrauen ist angebracht

Als sich Markus W. als Au Pair vorstellte, gab es für die Eltern der kleinen Nicola natürlich keinerlei Anzeichen dafür, dass mit dem Mann etwa nicht stimmte.

Doch laut Peter Breitner sollte man grundsätzlich misstrauisch sein, wem man seine Kinder anvertraut: "Wenn es sich um einen Mann handelt, sollte man besonders vorsichtig sein. Und dies vor allem, wenn er sich auch noch selbst anbietet, auf die Kinder aufzupassen. Das ist eine sehr heikle Angelegenheit"

(SZ vom 5./6. 02.2005)

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