Dieser eine Moment, in dem sie die Beine vom Boden lösen muss, ist der schwerste. Amsah Lamrani soll sich nur auf die eigene Balance und diese dünnen, wackligen Reifen verlassen. Schwung holen, den anderen Fuß auf das zweite Pedal setzen und den Moment der Schwebe aushalten. Das erfordert Mut. Es dauert lange, bevor Lamrani das erste Mal in ihrem Leben aufs Rad steigt. Unendlich peinlich ist es ihr, dass sie nicht fahren kann und das in einer Stadt, die sich Radlhauptstadt nennt und in der sich scheinbar alle Leute aufs Rad schwingen: die Hipster aufs Rennrad, die Senioren auf ihr Hollandrad, die Kinder auf das Laufrad.
Doch dass Lamrani, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, nicht Fahrradfahren kann, hat einen einfachen Grund: Sie hatte nie die Chance es zu lernen, denn sie kommt aus Marokko, einem Land, in dem Frauen auf Rädern nicht selbstverständlich sind. In vielen Ländern gilt das immer noch als unschicklich und entspricht nicht dem traditionellen Frauenbild.
In Saudi-Arabien war Frauen das Fahrradfahren bis vor zwei Jahren gesetzlich verboten, mobile Frauen sind nicht gerne gesehen. So hatte ein arabischer Geistlicher behauptet, dass Frauen, die am Steuer eines Autos sitzen, riskierten, ihre Gebärmutter zu verletzen. Soweit, so verrückt.
Anfangs glaubte Lamrani nicht, dass sie es schaffen würde
Was in diesen Ländern unmöglich scheint, können die Frauen in München schaffen, gemeinsam mit Donna Mobile, einer Münchner Beratungseinrichtung, die sich speziell an Migrantinnen richtet. Das Angebot geht mit Sportkursen, einem Frauencafé und Vorträgen weit über Fahrradkurse hinaus, aber diese sind schon seit Jahren besonders beliebt. Die Plätze sind begehrt, allein im vergangenen Jahr haben mehr als 140 Migrantinnen das Radfahren erlernt.
Auch Lamrani fasst nach langem Zögern den Entschluss, dass sie es endlich lernen will. Wegen ihrer Tochter, die in die erste Klasse geht, und mit ihr gemeinsam zur Schule fahren will. Weil sie schnell mal mit dem Rad zum Einkaufen fahren möchte. Weil sie sich wünscht, flexibel zu sein, ja, sie will es für sich selbst lernen. Sie überwindet sich und wählt die Nummer von Donna Mobile, wie sie erzählt. Gleich bei der Anmeldung am Telefon sagt sie, dass sie nicht daran glaubt, dass sie es lernen wird. Sie ist unsicher.
"Manchmal sind die Frauen überrascht, dass es im ersten Moment so gut klappt und verlieren dann die Balance", sagt Buket Barlas Waechter. Die Stürze seien aber meist nicht schlimm, sie rappeln sich schnell wieder auf. Anorak glätten, Helm gerade rücken und weiter geht's. Barlas Waechter weiß, dass die meisten Frauen einen starken Willen haben, denn sie unterrichtet seit vielen Jahren "Fahrradfahren".
Die 48-jährige Diplomübersetzerin für Türkisch und Englisch hat eine liebenswürdige und gleichzeitig energische Ausstrahlung. "Viele Menschen können es sich nicht vorstellen, wie schwierig es ist, als Erwachsene Fahrradfahren zu lernen", sagt sie. Sehr schwer sei es für die Frauen, erst einmal ihre Scham zu überwinden.
In einem viertägigen Kurs mit jeweils zwei Stunden Übungszeit schaffen es die meisten, sich auf dem Sattel zu halten. Dennoch müssen sie daheim weiter trainieren, sonst funktioniert es nicht. Zu Beginn klemmt sich Barlas Waechter das Vorderrad zwischen die Knie, die Frau muss links und rechts vom Rahmen stabil stehen, der Sattel ist in niedrigster Höhe eingestellt. "Frauen, die jahrelang eine Furcht vor dem Radfahren aufgebaut haben, für die bedeutet das eine Menge", sagt sie. Langsam gewöhnen sich die Frauen an das Rad und bauen ihre Ängste ab. Oft wird auch zuerst mit dem Tretroller geübt um die Balance zu finden.
Bedenken mit einer Handbewegung beiseitewischen
Die Übungsstunde beginnt in einem Raum von Donna Mobile in der Holzapfelstraße. Die Frauen sind alle überpünktlich, sie lachen nervös, der Helm liegt vor ihnen auf dem Tisch. Nach einem kurzen Theorieblock zu den Verkehrszeichen geht es hinaus, die Frauen schieben die Räder, die für die Kursdauer gestellt werden, auf dem Gehweg und fragen sich gegenseitig, wie es denn so läuft, mit dem Üben. Vor einem verglasten Gebäude stellt Barlas Waechter ihre Tasche ab, hier ist glatter Asphalt, wenig Laternen und genügend Platz. Büromenschen schauen aus den hohen Fenstern auf die Truppe, den Frauen ist das unangenehm.
Barlas Waechter wischt die Bedenken mit einer knappen Handbewegung beiseite und fängt ungerührt mit ihren Aufwärmübungen an. Arme kreisen, Beine lockern, Mitte finden. "Ganz wichtig ist das innere Gleichgewicht, das muss mit der äußeren Balance einhergehen, sonst klappt das nicht", sagt sie. Es sei immer wieder zu beobachten: "In dem Augenblick, in dem die Frauen aufs Fahrrad steigen, stärkt sich ihr Selbstbewusstsein." Die Frauen greifen sich entschlossen ihr Fahrrad. Die meisten in der fünfköpfigen Gruppe leben schon lange in Deutschland, haben aber ihre Wurzeln in unterschiedlichen Ländern wie Äthiopien, Malta oder der Türkei.
"Viele Frauen weinen vor Glück, wenn sie es gelernt haben"
Lamrani hat in Marokko Betriebswirtschaft studiert und macht in München eine Ausbildung zur Steuerfachgehilfin. Jetzt kämpft sie mit ihrer Angst. Es ist der dritte von insgesamt vier Kurstagen und sie sitzt wackelig auf dem Sattel, ein Fuß steht noch auf dem Asphalt. Lamrani schiebt ihre Hand unter den Helm, um ihr hellbraunes Kopftuch zurechtzuziehen.
Sie atmet aus, ein neuer Versuch. Lamrani schubst das Fahrrad an wie einen Roller, den Lenker hat sie so fest umfasst, dass die Haut an den Knöcheln ganz weiß ist. "Treten, treten, treten", ruft Barlas Waechter. Dann kippt Lamrani um. Sie strafft sich. "Ich fühle mich sehr frei, aber auf dem Fahrrad zu sitzen ist ein spezielles Gefühl von Freiheit, das mag ich", sagt Lamrani.
Alle Frauen nutzen die Zeit bis zum Schluss des Kurses. Barlas Waechter ist zufrieden mit ihrer Gruppe, einige können sich schon sehr lange auf dem Rad halten, das Bremsen klappt auch ganz gut. "Viele Frauen weinen vor Glück, wenn sie es gelernt haben. Man weint dann einfach mit", sagt sie. Auch Lamrani hat jetzt genug und zieht ihren Helm aus. "Ich lasse mir von niemand etwas verbieten", sagt sie. "Vielleicht lerne ich als Nächstes Schwimmen."