Süddeutsche Zeitung

Fahrradkuriere:Unterwegs mit einem Fahrradkurier in München

Fahrradkuriere sind tätowierte Bartträger, die permanent unter Strom stehen und Autofahrer beschimpfen? Falsch gedacht. Eigentlich geht es in der Branche eher entspannt zu.

Von Sebastian Herrmann

Ein Ladenlokal in Sendling. Neben dem Eingang steht ein runder Holztisch, darauf dampfen zwei Tassen Kaffee, von der Decke baumeln rote Christbaumkugeln. Dazwischen schweben ein paar geflügelte Engelsfiguren, die an Nylonfäden vor den Gardinen befestigt sind. Eine rote Kerze am Fenster komplettiert das weihnachtliche Deko-Ensemble, das sich irgendwie über die Monate bis in den Hochsommer gerettet hat.

Andererseits, vielleicht hängt der Weihnachtsschmuck auch schon seit Jahren hier in der Zentrale des Fahrradkurierdienstes Trans Pedal in Sendling, denn wen kümmert das schon, ob die Deko nun passt oder nicht? Die Dielen des Holzbodens sind rechtschaffen abgewetzt, an der Decke hängt eine nackte Glühbirne, an der Wand ein Rennrad mit orangem Rahmen.

Dazwischen liegen Fahrradmäntel und Transporttaschen herum und erzeugen eine Atmosphäre herrlicher Wurschtigkeit, die ein Gefühl von losgelöster Freiheit aufkommen lässt. In diesem Gemütlichkeitschaos ließe sich stundenlang Kaffee trinken, sollen sich doch die anderen abhetzen oder um so unerheblichen Kram kümmern, wie dass die Dekoration stets zur aktuellen Jahreszeit passt.

Der Morgen in der Zentrale der Firma Trans Pedal in München Sendling widerspricht der populären Vorstellung vom Fahrradkurierwesen. Das Klischee besteht aus bärtigen, tätowierten Hipster-Typen, die irre gehetzt auf schnellen Fahrrädern durch die Gegend heizen, stets im Kampf gegen die Uhr, stets im Konflikt mit der Straßenverkehrsordnung und immer nur ein paar Pedaltritte vom nächsten Beinaheunfall entfernt.

Doch hier im gemütlichen Chaos unter den Christbaumkugeln senkt sich der Puls wie von allein in entspannte Regionen. Am Holztisch sitzt Michael Breitbach, 47 Jahre alt, seit 2013 im Sattel für Trans Pedal unterwegs. Der Berufsradler würde sich optisch - rotes Funktions-T-Shirt, kurze schwarze Hose, drahtig und durchtrainiert - auch als Verkäufer in einem Laden von Outdoor-Ausrüstung einfügen, und er wäre sicherlich einer jener Angestellten, an die sich die Kunden automatisch am liebsten wenden.

Aber als Verkäufer müsste Michael Breitbach feste Arbeitszeiten akzeptieren, mit Urlaubstagen haushalten und andere Umstände hinnehmen, die für ihn eine Zumutung wären. "Freiheit ist für mich ganz zentral, das ist mir fast das Wichtigste überhaupt", sagt Breitbach. Und Freiheit findet er im Sattel, wenn er durch München und überhaupt mit dem Fahrrad durch sein Leben rollt.

Die etwa 30 Kuriere, die für Trans Pedal durch München radeln, arbeiten alle auf Rechnung, sie können Aufträge annehmen und einen ganzen Tag Kilometer schrubben, bis die Beine brennen, sie können aber auch Aufträge ablehnen und nur so viel arbeiten, wie es in ihren Lebens- und Finanzplan passt. "Das kann ich selbst entscheiden", sagt Michael Breitbach. Für eine Fahrt bekommen die Kuriere mindestens vier Euro, längere Wege bringen hingegen bis zu zwölf Euro ein. Grob über den Daumen gepeilt, gibt es einen Euro je gefahrenen Kilometer.

Im Zimmer nebenan sitzen zwei Mitarbeiter der Firma vor Rechnern, nehmen Aufträge von Kunden entgegen und geben diese an die Kuriere weiter. "Was habt ihr denn für mich?", fragt Michael Breitbach die zwei Männer. Die erste Fahrt führt in die Ganghoferstraße in der Nähe des Bavariaparks, eine Werbeagentur, Stammkunde und höchstens zwei Kilometer entfernt.

Das Dienstrad des Kuriers Michael Breitbach ist ein kleines, weißes Klapprad mit 20-Zoll-Rädern. "Damit kann ich auch in die S-Bahn einsteigen und muss keine Extra-Fahrkarte dafür kaufen", sagt er. Viele der Trans-Pedal-Kuriere radeln nicht nur durch München, sondern nutzen auch den öffentlichen Nahverkehr, wenn die Strecken zu weit sind und es mit der S-Bahn schneller geht. Firmengründer und Geschäftsführer Günter Hofner soll an diesem Tag zum Beispiel ein Plakat beim Liedermacher und Isarindianer Willy Michl in Solln abholen und zur Praterinsel bringen. Am bequemsten lässt sich das mit Klapprad und S-Bahn erledigen.

In München bleibt das Rad auch mal nicht abgesperrt

Zur Agentur in der Nähe des Bavariaparks rollt Michael Breitbach verblüffend entspannt. Seine Geschwindigkeit liegt bei maximal 20 Kilometern pro Stunde, sehr gemütliches Radltempo. Warum hetzen, wenn es nicht nötig ist? Genug Kraft in den Beinen hätte Michael Breitbach. Seit mehr als 20 Jahren unternimmt er lange Rad- oder Trekkingreisen. Mit seiner Lebenspartnerin ist er von Feuerland an der Südspitze Südamerikas bis Portland, Oregon, geradelt. "Die meiste Zeit mit Gegenwind", sagt Breitbach.

Zwischendrin sind die beiden noch auf 6000 Meter hohe Berge in den Anden gestiegen. Durch Jordanien, Israel und den Sinai war er sieben Wochen auf dem Rad unterwegs, auf dem Donauradweg bis Belgrad. Bei einer Island-Durchradelung blies der Wind teils so stark, dass er einmal für 35 Kilometer sieben Stunden brauchte.

Michael Breitbach lehnt das Rad an die Hausmauer. Ob er absperrt, entscheidet er irgendwie nach Gefühl, meistens bleibt das Klapprad ungesichert. "In München geht das", sagt Breitbach. In der Agentur nimmt er ein paar Unterlagen in Empfang, die im wasserdichten Rucksack Platz finden. Dann rollt er durch das Neubaugebiet neben dem Bavariapark, auf die Lindwurmstraße zu und gemütlich weiter über den schrecklichen Radweg bis zum Goetheplatz. Unterwegs ruft ein Disponent aus der Christbaumkugelhöhle in Sendling an, der Trans Pedal Zentrale. Ob er noch am Sendlinger Tor vorbei fahren könne? "Klar, das liegt gut auf dem Weg", sagt Michael Breitbach.

Dieser Kunde braucht ein Rezept von seinem Arzt, hat aber keine Zeit, selbst in der Praxis vorbeizufahren. Breitbach holt die Krankenkassenkarte ab und macht sich auf den Weg Richtung Praxis, die irgendwo in der Prinzregentenstraße liegt. "Solche Aufträge gibt es häufiger", sagt er. Andere Kunden bestellen einen Fahrradkurier, damit der die Post zum Briefkasten bringt, lassen einen Blumenstrauß ins Krankenhaus bringen oder bestellen etwas bei Prada, das dann ins Hotel Vierjahreszeiten geliefert werden soll.

Früher waren Fotografen, die Filme ins Labor schickten, oder Reisebüros, die analoge Tickets in letzter Minute übergeben mussten, die wichtigsten Kunden der Kuriere. Doch auch die Fahrradkurierbranche leidet unter der Digitalisierung. "Das ist vorbei, heute kommen vielleicht 70 Prozent der Aufträge aus dem medizinischen Bereich", sagt Breitbach. Blut- oder Gewebeproben müssen von A nach B gebracht werden oder die Augenklinik verschickt zum Beispiel ein Stück von der Retina an eine andere Klinik, in der die Augennetzhaut benötigt wird. Das immerhin ist ein sicheres Geschäft, menschliche Körperkomponenten werden so schnell nicht digitalisiert werden.

"Hier dauert die Rot-Phase immer Ewigkeiten", sagt Michael Breitbach. Er wartet vor einer Ampel in Haidhausen, Milchstraße Ecke Wörthstraße. In der Innenstadt kennt der Radkurier wahrscheinlich jede Bordsteinkante und jede Ampeltaktung. "Trotzdem komme ich fast jeden Tag in eine Ecke von München, in der ich vorher noch nie war", sagt er, "das ist auch ein Reiz an dem Job."

Die anderen Pluspunkte: an der frischen Luft zu sein, die Bewegung, das meditative Rollen und vor allem sein eigener Herr sein, arbeiten so viel und so lange Breitbach will. Gelernt hat der 47-Jährige Verlagskaufmann, aber keine rechte Erfüllung in dem Job gefunden. Nach dem Zivildienst und diversen langen Reisen landete er schließlich im IT-Bereich und blieb zehn lange Jahre in einer Firma.

Aber dann? "Dann habe ich bei einem Triathlon-Trainingslager in Thailand einen Berliner kennengelernt, der als Rikschafahrer gearbeitet hat", sagt Breitbach. "Das klang sehr interessant." Und das war der Einstieg in ein fahrrad- und freiheitzentriertes Berufsleben. Heute fährt er etwa sechs Monate im Jahr als Kurier. Während der Reisesaison von August bis nach dem Oktoberfest kutschiert er dann Touristen auf einer Rikscha durch München. Die übrigen drei Monate im Jahr verbringt er selbst auf Reisen, gerade gerne auf Wanderungen, weil selbst ein Fahrradkurier mal Abstand vom Sattel braucht.

Die Kreuzung in der Milchstraße ist endlich überwunden, die Unterlagen aus der Werbeagentur am Bavariapark in einer ebenfalls sehr stylish eingerichteten Agentur in einem Hinterhaus nicht weit von der freiheitsraubenden Ampel abgegeben. Nun rollt der Kurier auf dem Klapprad vorbei am Klinikum rechts der Isar Richtung Prinzregentenstraße, um dort das Rezept aus der Praxis abzuholen. Breitbach ist ohne Helm unterwegs - ist das nicht ein wenig riskant für einen Vielfahrer wie ihn, der etwa 10 000 Kilometer im Jahr radelt, das meiste davon in der Stadt?

Er reicht den Arzthelferinnen die fremde Krankenkassenkarte über den Tresen und wartet auf das Rezept. "Ich fühle mich nicht unsicher ohne Helm." Böse gestürzt ist er im Kurierdienst bisher nicht, dafür hat ihn einmal ein Hund angefallen, da hilft ein Fahrradhelm auch nicht weiter. "Das war ein schwarzer Schäferhundmischling", sagt er. Der Hund hatte zwar einen Maulkorb, doch der war nicht angelegt. Die Bisswunde musste in der Chirurgie in der Nußbaumstraße genäht werden. Ansonsten geschehen natürlich gelegentlich die Beinahe-Unfälle, die jeder Stadtradler in München im Alltag erlebt. Noch ein Grund, lieber nicht zu schnell und zu gestresst zu fahren.

Das Rezept ist ausgestellt und muss zurück zum Kunden am Sendlinger Tor. Unterwegs ruft Michael Breitbach noch einmal in der Trans Pedal Zentrale an, ob noch ein Auftrag zu haben ist. Er trägt ein Headset am Ohr, das Handy in einer Tasche am Gürtel. "Das schaffe ich nicht mehr, das ist zu weit", er sagt einen Auftrag ab. An diesem Sommertag fährt Breitbach nur bis Mittag als Kurier, dann wechselt er für einen anderen Auftraggeber auf die Rikscha. Eine Stadtrundfahrt mit anschließendem Picknick, Prosecco, Kuchen.

Einen letzten Auftrag für den Vormittag ergattert Michael Breitbach aber doch noch, eine Kurzstrecke: vom Gärtnerplatz zur Fraunhoferstraße. "So was gibt es auch, das sind dann Fahrten, die kaum 200 Meter weit sind." Warum bestellt man dafür einen Kurier, da ist man doch selbst gelaufen, während man auf den Kurier wartet? "Keine Ahnung", sagt Michael Breitbach, "vielleicht sind die tatsächlich so gestresst, dass sie keine Zeit haben, oder sie haben einfach keine Lust, selbst zu laufen."

Die zweite Antwort ist auf jeden Fall die schönere Variante: Vielleicht handelt es sich auch bei diesen Auftraggebern um höchst entspannte Menschen, die sich lieber mit Kaffee an einen schönen Holztisch setzen und sich die Freiheit nehmen, Aufgaben an einen Kurier zu delegieren. Bevor Michael Breitbach zum Gärtnerplatz radelt, gibt es noch einen schönen Espresso in der Müllerstraße. Ein bisschen Zeit sollte immer sein.

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Quelle:
SZ vom 22.08.2017
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