Fahrlässige Körperverletzung:Ein Hund als "gefährlicher Gegenstand"

Lesezeit: 3 min

Ein Dalmatiner fällt zwei Kinder und deren Vater an - und die Besitzerin reagiert minutenlang nicht. Dafür muss sie nun mehr als 11 000 Euro Strafe zahlen.

Von Susi Wimmer

Dalmatinerhunde messen am Widerrist eine Höhe von bis zu 62 Zentimeter, und sie können ein Gewicht von gut 30 Kilogramm auf die Waage bringen. So ein Dalmatiner war es, der am Neujahrsmorgen auf die Kinder von Ludwig B. (Name geändert) losging, dem Vierjährigen die Mütze vom Kopf riss, ihn am Kopf kratzte und sich in seiner Kapuze verbiss. Als der Vater "in Todesangst" um seine Söhne zu Hilfe eilte, attackierte ihn der Dalmatiner ebenfalls und biss ihn in den Oberarm.

"Die Besitzerin", sagte Ludwig B. vor Gericht aus, habe "total abwesend und teilnahmslos" gewirkt und erst nach mehreren Minuten den Hund eingefangen. Anschließend sei sie davon gegangen. Dafür wurde Irmgard G. jetzt in zweiter Instanz am Landgericht München I wegen fahrlässiger Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 11 700 Euro verurteilt.

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Ludwig B. wird den Neujahrstag 2021 so schnell nicht vergessen, ebenso wenig seine beiden Söhne. Bis heute machen sie um Hunde einen großen Bogen. Ludwig B. war mit seiner Familie und der Familie seines Bruders gegen 17 Uhr zu einem Spaziergang aufgebrochen. Über die Nymphenburger Straße sollte es nach Hause in Richtung Rotkreuzplatz gehen. Der vierjährige Sohn lief voran, als an der Kreuzung zur Volkartstraße der große Hund auftauchte. Wie die beiden Brüder als Zeugen in der Verhandlung vor der 26. kleinen Strafkammer aussagten, attackierte der Dalmatiner den Vierjährigen, riss ihm die Mütze vom Kopf. Sein 13-jähriger Bruder war als Erster bei ihm, um ihn vor dem Hund zu schützen. "Der wurde immer wilder", sagte der Bruder vor Gericht. Der Dalmatiner verbiss sich in die Kapuze des Kleinen. Als dann der Vater angerannt kam, sprang der Dalmatiner auch ihn an und biss zu.

Gute zehn Minuten, so schätzen beide Zeugen, habe der Hund immer wieder Anlauf genommen. Sie hätten der Besitzerin zugerufen, sie solle den Hund anleinen. Der habe laut gebellt. Auch ihre Rufe wie "Sitz" oder "Aus" hätten nicht geholfen. "Normalerweise", sagt Ludwig B., "laufe ich doch zu jemandem hin, wenn so etwas passiert, und schaue, ob ich helfen kann". Doch die Hundehalterin sei reglos geblieben, sie habe betrunken gewirkt. Irmgard G. habe irgendwann dem Dalmatiner "etwas um die Schnauze gebunden" und sei auf einen Hauseingang zugesteuert. Der Bruder sagt, er sei ihr nachgegangen, habe gesagt, man werde die Polizei rufen, sie solle ohne Hund nochmal runterkommen, man müsse das klären. Aber die Frau sei einfach im Hauseingang verschwunden. Ein Nachbar, der auf die Rufe aufmerksam geworden war, öffnete sein Fenster und gab den Brüdern den Namen der Hundehalterin. "Wir haben draußen noch eine Viertelstunde gewartet, aber sie kam nicht mehr."

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Irmgard G. hatte schon in erster Instanz vor dem Amtsgericht erklärt, sie habe ihren Hund angeleint, sei nach draußen gegangen. Er habe sich plötzlich losgerissen und sei weggerannt. Keiner der Beteiligten hätte etwas von einer Bissverletzung gesagt. "Wie die Leine aufging, kann ich mir nicht erklären." Dabei ist das nicht der erste Vorfall mit ihrem Dalmatiner. Im August 2017 attackierte der Hund eine Dreijährige, woraufhin die Stadt München einen Maulkorbzwang verhängte, den sie später wieder aufhob. Zudem darf der Dalmatiner nur mit einer reißfesten, maximal zwei Meter langen Leine ausgeführt werden.

Als Ludwig B. nach dem Vorfall zu Hause seine dicke Jacke auszog, bemerkte er, dass "alles voller Blut war". Sein Kreislauf kollabierte, er kam mit dem Krankenwagen in eine Klinik. Sein Sohn erlitt einen Kratzer am Kopf. Bereits in erster Instanz vereinbarten die Parteien einen Vergleich, demzufolge Irmgard G. dem Verletzten binnen einer Woche 3000 Euro Schmerzensgeld zahlen sollte. Die Ärztin allerdings zahlte bis zur Berufungsverhandlung keinen Cent. Sie sei in "finanziellen Nöten".

"Ihr minutenlange Nichtstun wiegt besonders schwer"

Die Staatsanwältin erklärte in ihrem Plädoyer, "das ganze Bild, das hier abgegeben wird, ist beschämend und traurig". Sie könne die Entschuldigung der Angeklagten nicht ernst nehmen. Sie bedauere, dass es in der Berufungsverhandlung lediglich um die Strafhöhe gegangen sei. In dieser Situation könnte man auch "über eine vorsätzliche Körperverletzung nachdenken". Der Schnappverschluss an der Leine sei nur mit beiden Händen zu öffnen. Da sei die Einlassung, dass der Hund sich losgerissen hätte, "schon frech".

Richter Arthur Schnorfeil verurteilte Irmgard G. zu 90 Tagessätzen je 130 Euro. "Ihr minutenlanges Nichtstun wiegt besonders schwer", sagte er. Er gab der Frau auch den Rat, sie dürfe den Hund nicht ausführen, wenn sie Alkohol getrunken habe. Der Hund sei "wie ein gefährlicher Gegenstand" zu sehen. "Und Sie sind in vollem Umfang verantwortlich."

© SZ vom 02.08.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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