Extremismus:Hitlergruß oder nur steifes Winken?

München: PEGIDA - Demonstration + Gegendemonstration

Tausende Münchner protestieren, wie hier 2018, gegen rechte Aufmärsche. Oft unbemerkt bleiben Antisemitismus im Alltag und bewusste Tabubrüche.

(Foto: Johannes Simon)
  • Im vergangenen Jahr waren in München immer wieder Tabubrüche von rechter Seite zu beobachten, etwa als Neonazis am Jahrestag des Hitler-Putsches mit Kerzen zur Feldherrnhalle zogen.
  • Zwei aktuelle Studien deuten darauf hin, dass nur eine von fünf antisemitischen Taten überhaupt angezeigt wird.
  • Und bei manchen angezeigten Fällen kann die Justiz nicht tätig werden. Denn nicht jede antisemitische Aussage lässt sich in Deutschland strafrechtlich ahnden.

Von Martin Bernstein und Jakob Wetzel

Die Tabubrüche haben System. Im vergangenen Jahr waren sie in München immer wieder zu beobachten.

Fall 1: Rechtsextreme besuchen eine pro-jüdische Kundgebung auf dem Jakobsplatz, genau dort, wo 15 Jahre zuvor eine Bombe hätte explodieren sollen. Mit dabei sind Weggefährten der Terroristen von einst, eine Provokation, womöglich gar ein Einschüchterungsversuch. Doch die Polizei sieht keine Handhabe, sie wegzuschicken.

Fall 2: Der Münchner Stadtrat Karl Richter (Bürgerinitiative Ausländerstopp) fordert im November 2018 auf Facebook "Freiheit für Ursula Haverbeck". Er nennt die 90-Jährige eine "Dissidentin im angeblich freiesten Staat der deutschen Geschichte". Die vermeintliche Regimekritikerin sitzt im Gefängnis, weil sie den Holocaust leugnet - das ist eine Straftat. Sie dennoch gut zu finden, ist es nicht.

Fall 3: Ein jüdischer Wirt findet an Neujahr einen Zettel an seiner Tür, auf dem er und seine Gäste als nichtdeutsche "Schweine", die "gesoffen, gefressen und geraucht" hätten, beschimpft werden. Das Wort "Jude" steht da nicht, doch die Stoßrichtung ist klar. Immerhin: Polizei und Staatsanwaltschaft ermitteln wegen des "Anfangsverdachts einer Beleidigung".

Drei Fälle aus den vergangenen Wochen und Monaten, drei von vielen. Sie folgen einem ähnlichen Kalkül: Rechtsextremismus, Geschichtsrevisionismus und Judenhass sollen wieder salonfähig werden. Wenn Neonazis am Jahrestag des Hitler-Putsches mit Kerzen zur Feldherrnhalle ziehen; wenn bei Pegida in einem Cartoon Adolf Hitler in Israel auftritt; wenn ein Redner "das größte Konzentrationslager der westlichen Hemisphäre" Israel andichtet; wenn ein auf einer Kundgebung gezeigtes Video auf die NSU-Morde und auf das Oktoberfestattentat anspielt und ein Foto des Münchner Oberbürgermeisters Dieter Reiter mit einem Schussgeräusch unterlegt wird; wenn Mitglieder der AfD-Jugendorganisation vor der Landtagswahl die CSU-Parteizentrale in München mit Kunstblut "in einen Tatort" verwandeln: Dann soll Unsägliches wieder sagbar werden, dann sollen Grenzen ausgelotet und verschoben werden - und zwar weit nach rechts.

Die Grenzen zieht die Justiz, eigentlich. Wenn versucht werde, antisemitische Hetze auf Umwegen zu betreiben, müsse der Aussagegehalt "auf die Goldwaage" gelegt und geprüft werden, welche Deutungen in Betracht kämen, sagt Andreas Franck. Der Oberstaatsanwalt ist seit September Antisemitismusbeauftragter der Münchner Generalstaatsanwaltschaft. "Bleibt vernünftigerweise nur eine Deutung übrig, die zum Hass gegen Juden anstachelt", werde ermittelt, sagt Franck. "Dem scheinbar harmlosen Bedienen antijüdischer Klischees lässt sich damit wirksam begegnen."

Marian Offman hat das schon anders erlebt. Im vergangenen Sommer hat der Münchner CSU-Stadtrat, der auch im Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde ist, zweimal Anzeige erstattet: einmal gegen einen AfD-Politiker, einmal gegen einen Teilnehmer an einer Pegida-Veranstaltung. Der AfD-Mann habe beim Winken mehrere Sekunden lang den rechten Arm steif nach oben ausgestreckt und so einen Hitlergruß angedeutet, sagt Offman. Dieses Andeuten sei eine beliebte Masche, doch die Absicht dahinter sei so klar erkennbar gewesen, dass auch andere Zeugen Offman darauf ansprachen. Der Pegida-Teilnehmer wiederum habe dem Stadtrat entgegengeschleudert, die Zahl von sechs Millionen im Holocaust ermordeten Juden könne "nur aus dem Reader's Digest" stammen. Damit habe er die Schoah in den Bereich von Fiktion und Belletristik gerückt und sie so relativiert.

Konsequenzen hatten Offmans Anzeigen nicht: Die Ermittlungen wurden in einem Fall eingestellt, im anderen gar nicht erst aufgenommen. Der ausgestreckte Arm könne "nicht mit der erforderlichen strafprozessualen Sicherheit als sog. 'Hitler-Gruß' bezeichnet werden", teilte die Staatsanwaltschaft mit. Man könne nicht ausschließen, dass der Beschuldigte nur steif in die Menge winke. Und die Zeitschrift Reader's Digest stehe nicht im Ruf, unwahre Angaben zu verbreiten. Ein Verharmlosen des Holocaust sei daher nicht zu erkennen. Unterzeichnet hat Oberstaatsanwalt Franck.

Die Meinungsfreiheit hat in Deutschland sehr weite Grenzen

Für Ludwig Spaenle, den bayerischen Antisemitismusbeauftragten, steht fest: Hinter den Tabubrüchen steckt Methode. "Das Klima verändert sich", sagt Spaenle. Tabubrüche wecken nach seiner Überzeugung rechte "Schläfer". Solche Menschen würden aktiv, wenn Schlüsselbegriffe fallen. "Das wird man doch noch sagen dürfen", laute dann die Rechtfertigung.

Oberstaatsanwalt Franck räumt ein, dass sich "in einem liberalen Rechtsstaat nicht jede mit antijüdischer Intention getätigte Äußerung mit den Mitteln des Strafrechts ahnden lässt". Das Grundgesetz setze der Meinungsfreiheit sehr weite Grenzen. Dass das aus Sicht eines Opfers antisemitischer Hetze zuweilen schwer erträglich sei, könne er "gut nachvollziehen". Indes bestärke er seine Kollegen, "beherzt einzuschreiten".

Zusammen mit dem Polizeipräsidium München arbeitet Franck derzeit an Maßnahmen, die es Opfern antisemitischer Straftaten erleichtern sollen, eine Anzeige zu erstatten. "Ein wichtiger Baustein wird die weitere Sensibilisierung von Polizeibeamten sein bei der Aufnahme von Anzeigen von Opfern antisemitischer Straftaten", sagt der Oberstaatsanwalt. Opfer dürften keine Angst davor haben. Genau diese Ängste gibt es aber.

Zwei aktuelle Studien deuten darauf hin, dass nur eine von fünf antisemitischen Taten überhaupt angezeigt wird. Weil die Betroffenen glauben, die Ermittlungen würden nicht zum Erfolg führen. Oder weil, besonders irritierend, Polizisten selbst den Opfern davon abrieten. Oft würden auch die "Codes", mit denen etwa Verschwörungstheoretiker arbeiten, nicht verstanden, heißt es in einer bayernweiten Untersuchung. Solche Codes nutzen auch Münchner AfD-Politiker. Sie schimpfen über "die Rothschilds" oder den Milliardär George Soros, über die angeblich staatenlose "internationale Geldmachtelite", über "Schattenregierungen" und das "Netzwerk" der Freimaurer. Antisemitische Klischees sind das, die ohne das Wort "Jude" auskommen.

Die "bewusst gewählte Strategie, Grenzen zu verschieben", beobachtet Spaenle besonders bei der AfD. Auf den Tabubruch folge oft ein taktisches Zurückweichen. Der Münchner AfD-Bundestagsabgeordnete Petr Bystron postete etwa eine antisemitische Karikatur, die wenig später wieder von seiner Facebook-Seite verschwand. Im Dezember machte Bystron Schlagzeilen, als er sich in Südafrika mit Mitgliedern einer rassistischen Organisation traf und dort an einer Schießübung teilnahm, weil er "Jäger" sei.

Gezielter Tabubruch: eher ein Rütteln als Propaganda

"In der AfD werden die Verbrechen der Nationalsozialisten geleugnet oder schöngeredet", sagte Spaenle Ende September der Nachrichtenagentur epd. Die Ermordung von Millionen Menschen und der Beginn eines verbrecherischen Krieges ließen sich aber nicht leugnen oder verharmlosen: "Wir dürfen nicht zulassen, dass die AfD mit ihren historischen Tabubrüchen fortfährt und so den Boden geistig für den Rechtsradikalismus weiter bereitet", betonte der CSU-Politiker.

Gezielter Tabubruch sei Teil einer veränderten Strategie der extremen Rechten, sagt Miriam Heigl, die Leiterin der städtischen Fachstelle für Demokratie und gegen Rechtsextremismus. Sie beobachtet auch, dass sich Rechtsextreme selbst zu Opfern stilisieren oder - wie in den Anfängen der Münchner Pegida - so tun, als gehörten sie zur bürgerlichen Mitte. Heigl spricht von "Mimikry". Propaganda für ein geschlossenes rechtes Weltbild trete in den Hintergrund, sagt Heigl: "Es ist mehr ein Rütteln: an den bisherigen Grenzen des Sagbaren, an den Institutionen, an den Formen des Umgangs." Deshalb werden auch Mitarbeiter der Stadtverwaltung geschult, wie sie auf bewusste Provokationen reagieren können. "Beamte müssen sich zwar parteipolitisch neutral verhalten, aber das heißt nicht, dass man Rassismus zu akzeptieren hätte." Es gebe Grenzen des Sagbaren, sagt Heigl, und auf die müsse man bestehen.

"Das Wegschauen muss schwerer werden", fordert auch Spaenle. Dazu soll die von ihm initiierte bayerische Meldestelle für antisemitische Vorfälle beitragen, die im März ihre Arbeit aufnimmt. "Wir müssen eine Offensivstrategie entwickeln", sagt der frühere Kultusminister. Die Stadt München sei dabei ein Vorbild. Wichtig ist Spaenle, dass staatliche Institutionen, aber auch die kommunalen Spitzenverbände, die Wirtschaft, Bildungseinrichtungen, Sport- und Kulturvereine sich darauf verständigen, was Antisemitismus ist und wie er sich äußert: "Wir brauchen die gesamte gesellschaftliche Breite."

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