Süddeutsche Zeitung

Neues Buch:Die verrückte Expedition der Schlagintweits

Lesezeit: 3 min

Drei Brüder aus München machen sich auf, die Welt zu vermessen: Mitte des 19. Jahrhunderts reisen die Forscher im Auftrag der Ostindien-Kompanie nach Asien. Einer kehrt nicht zurück.

Von Nadine Regel

Die Brüder Schlagintweit haben in Kalkutta nicht nur Menschen in Gefängnissen fotografiert, sondern auch Gesichtsmasken hergestellt. Die Einheimischen legten sich auf den Rücken, dann verteilten die Forscher mit einem Spachtel zwei bis drei Kilogramm Gips auf deren Gesichtern. Eine halbe Stunde später war der Gips getrocknet und die Maske fertig. "Das muss man sich mal vorstellen", sagt Rudi Palla. In mühsamer Detailarbeit hat er das Leben der drei Forscherbrüder aus München in seinem neuen Buch "In Schnee und Eis" aufgeschrieben.

Mitte des 19. Jahrhunderts führten Hermann, Robert und Adolf Schlagintweit auf ihrer Reise durch "Hochasien" und das Himalaja-Gebirge Vermessungen an Menschen durch. "Obwohl sie noch nicht einmal Anthropologen waren", sagt Palla. Doch die "Sammelwut" der drei Brüder beschränkte sich nicht nur auf menschliche Daten. Sie trugen bei ihrer "verrückten Expedition" 305 Messinstrumente bei sich, um im Auftrag der Britischen Ostindien-Kompanie - der East India Company - den Erdmagnetismus zu erforschen und die Kartografie voranzubringen.

Außerdem erforschten die Schlagintweits Flora und Fauna der bereisten Länder und dokumentierten die Lebensweise der Einheimischen. "Das zeigt, wie süchtig sie waren", sagt Palla. Die Brüder aus München sammelten während ihrer drei Jahre dauernden Expedition so viel, dass sie die Auswertung zu Lebzeiten nicht abschließen konnten: Sie schickten 14 777 Exponate in 510 Holzkisten nach Hause - darunter Aquarelle, Gebeine, Amphibien, Reptilien, Gesteine und Pflanzen.

"Das war eine der größten Expeditionen in dieser Zeit in dieser Region", sagt Palla. Die Münchner waren dabei auf die Unterstützung von bis zu 120 indigenen Helfern angewiesen, die das Gepäck transportierten, als Führer, Dolmetscher, Köche und Diener arbeiteten. Als Lastentiere nutzten sie Pferde, Kamele und Elefanten. Auf ihrer Reise gelangten sie bis nach Darjeeling, Bhutan, Leh, in den Karakorum, nach Nepal und ins Tarimbecken. Dabei begaben sie sich auch in gefährliche Gebiete. Das wurde Adolf Schlagintweit, der seine Rückreise nach Deutschland auf dem Landweg antreten wollte, zum Verhängnis. Er wurde in der Nähe von Kaschgar gefangen genommen und im Sommer 1857 ohne Prozess oder Anhörung am Hof des Khans als mutmaßlicher chinesischer Spion enthauptet.

Lange Zeit vor diesem schrecklichen Ende hatten sich die Brüder Alexander von Humboldt zum Vorbild genommen. Er war es auch, der die drei Wissenschaftler damals der East India Company empfahl. Die jungen Geografen und Geologen sollten seinen Traum von einer Himalajareise in die Tat umsetzen, Humboldt selbst war zu dieser Zeit schon in seinen Achtzigern. "Die Schlagintweits entwickelten Humboldts universellen Forschungsansatz weiter", sagt Palla. Sie hätten auch dessen Naturverständnis übernommen - "aus der Vielheit auf die Ganzheit schließen", sagt Palla. Dabei griffen die Münchner auch auf die Zoologie, Ethnologie und Botanik zurück. Allesamt Wissenschaften, die sie nicht studiert hatten. Damit büßte ihre Forschung an Glaubwürdigkeit ein. Hinzu kam, dass die Briten nicht verstanden, warum gerade "Preußen" eine Forschungsreise der britischen Kompanie anleiten durften. Nach ihrer Reise veröffentlichten die Brüder vier Bände mit Daten zu Glaziologie und Geografie, hinzu kamen vier Bände mit populärwissenschaftlichen Abhandlungen.

Pallas Interesse an der abenteuerlichen Expedition der Schlagintweits ist in seiner eigenen Vergangenheit begründet. Der ehemalige Filmemacher ist seit den Achtzigerjahren Vollzeit-Autor und lebt in Wien. In seinen Büchern beschäftigt er sich hauptsächlich mit Naturthemen und Expeditionen. Palla war selbst viel auf Reisen: Als Kameramann begleitete er den deutschen Ethnologen Michael Oppitz Ende der Siebzigerjahre nach Nepal, um dort einen Dokumentarfilm über den Schamanismus des Bergvolkes der Magar zu drehen. Palla verbrachte fünf Monate in Zentralnepal zwischen den Achttausendern Dhaulagiri und Annapurna. Außerdem besuchte er vor 15 Jahren die damals erst kürzlich für Touristen freigegebene tibetische Enklave Dolpo, die von Tibetern besiedelt ist, aber tatsächlich zu Nepal gehört. "Ich habe Glück gehabt, dass ich Nepal noch in einer gewissen Ursprünglichkeit erlebt habe", sagt Palla. Kathmandu habe sich seitdem stark verändert. Die Stadt sei heute "verpestet von Zweitaktmopeds".

Wie würden sich erst die Brüder Schlagintweit wundern, wenn sie heute die ausgetretenen Pfade rund um die Achttausender erleben könnten? Die Brüder waren sehr gut ausgebildet. Der Vater war Augenarzt, die Mutter ein "Schöngeist" - sie achtete darauf, dass ihre Söhne auch in Literatur und Kunst unterrichtet wurden. In den ersten Jahren ihrer Forschungstätigkeit widmeten sich die Schlagintweits zunächst botanischen und glaziologischen Untersuchungen in den Alpen. Dabei bestiegen sie unter anderem den Großglockner, die Wildspitze und den Similaun. An der Erstbesteigung des höchsten Schweizer Gipfels, der 4634 Meter hohen Dufourspitze im Monte-Rosa-Massiv, scheiterten sie im Jahr 1851 nur knapp.

Palla fasziniert das physische wie psychische Durchhaltevermögen der Brüder. Und diese "bizarren Details", die die drei Münchner auf ihrer Reise zutage brachten. Auch für die Wissenschaftsgeschichte sei die Reise wichtig gewesen, weil heute noch auf das umfangreiche Wissen der Schlagintweits in der Gletscherkunde zurückgegriffen werde. Sand- und Schneestürme, Wasser- und Nahrungsnot, Gefahren: Die Brüder haben alles erlebt, was man erleben kann. "Das alles ergibt ein lesenswertes Dokument des 19. Jahrhunderts", sagt Rudi Palla.

Rudi Palla: In Schnee und Eis. Die Himalaja-Expedition der Brüder Schlagintweit. Galiani-Berlin, 192 Seiten, 20 Euro.

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SZ vom 19.03.2019
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