Süddeutsche Zeitung

Ex-Bayern-Profi Kapellmann:Leichenteile im Trainingslager

Jupp Kapellmann erklärte Mitspielern gerne an toten Körpern, wo Kreuzband und Meniskus liegen. Nun arbeitet der Ex-Bayern-Profi als Arzt in einem Land, das von Menschenrechtsorganisationen hart kritisiert wird: Saudi-Arabien.

Von Benedikt Warmbrunn

Diese Geschichte über den ehemaligen Fußballspieler Hans-Josef Kapellmann beginnt so, wie nur wenige Geschichten über ehemalige oder aktuelle Fußballspieler beginnen: mit einem Gehirn. Ein Sommer in den Siebzigerjahren, der FC Bayern fährt ins Trainingslager, und Kapellmann, der nie ein gewöhnlicher Fußballprofi war, nimmt ein Gehirn mit, eingelegt in Formalin.

Damit geht er an einem Abend zu seinem Freund, dem Torwart Sepp Maier. "Sepp, schau", sagt Kapellmann, er zeigt auf verschiedene Stellen des Gehirns, "dort bist du sehr gut ausgebildet, dort sehe ich bei dir noch etwas Potenzial, aber dort", Kapellmann tippt mehrmals auf eine Stelle, "dort wird sich bei dir niemals etwas regen." Kapellmann lacht, und weil auch Maier nie ein gewöhnlicher Fußballprofi war, lacht er mit. Dann lässt er sich das menschliche Gehirn in all seinen Einzelheiten erklären.

Der Fußballprofi Kapellmann war immer auch ein Mittler zwischen Welten, die zunächst kaum zueinander passen, und genau das, dieses Mittlersein, ist es, was sich Kapellmann aus seiner Zeit als Fußballprofi bewahrt hat. Weswegen ihn seine Geschichte schließlich nach Saudi-Arabien führen sollte.

"Irgendwann hatte ich das System so dicke"

Einer der letzten Sommernachmittage des Jahres, eine Privatklinik am Ostersee im Süden des Starnberger Sees. Kapellmann, 65, das Gesicht in einer ledernen Bräune, der Körper nach wie vor in einer athletischen Dürrheit, die Haare in einer etwas zu langen Meckihaftigkeit, verbringt hier einen letzten Nachmittag. Fast zwei Wochen lang war er in der Klinik. Ein Schwächeanfall bei der "Tour der Hoffnung", einer Benefiz-Fahrrad-Tour für leukämiekranke Kinder. Die Ursache: ein geschwächter Herzmuskel. Zwei Wochen verbringt Kapellmann also schon in der Privatklinik, er wurde auf alles durchgecheckt, er hat sich erholt. Und er hat auch gesehen, warum er, dessen Leidenschaft schon lange die Medizin ist, seit fast fünf Jahren nicht mehr in Deutschland arbeitet.

Damals, als der Fußballprofi Kapellmann seinem Mitspieler Sepp Maier die verschiedenen Bereiche des menschlichen Gehirns erklärte, war die Medizin für ihn noch ein Abenteuer. Er sah sich, den angehenden Arzt, als einen Mann, der in die verwinkelten Geheimnisse des Körpers eindrang und der mit diesem Wissen anderen Menschen helfen konnte.

Dieses Interesse hatte ihn auch 1973 vom 1. FC Köln zum FC Bayern geführt. 800 000 DM hatte der Klub für ihn bezahlt - und ihm einen Studienplatz an der LMU München besorgt. Die Ablösesumme war die Voraussetzung, die der 1. FC Köln an den Wechsel geknüpft hatte. Der Studienplatz war die Voraussetzung Kapellmanns. Noch in seiner Zeit als Profi begann er, als Assistenzarzt zu arbeiten, 23 Jahre lang praktizierte er als Orthopäde in Deutschland. "Aber irgendwann hatte ich das System so dicke."

Unangenehme Annehmlichkeit

Er wollte den Patienten nicht mehr als Nummer sehen, er wollte ihm nicht einfach nur eine schnelle Diagnose wie einen Stempel aufdrücken, und vor allem wollte er nicht operieren müssen, weil allein Operationen ihm Geld bringen. Er wollte auch nicht länger mitmachen, wenn Privatpatienten wie er in edle Kliniken wie die am Ostersee geschickt werden, Kassenpatienten aber lediglich nach Hause - als Patient ist ihm diese Annehmlichkeit unangenehm, bequem findet er es aber auch.

"Meine Vorstellung von der Medizin war immer schon eine ganzheitliche. Konservative Behandlung, Ordnung ins Leben bringen, vielleicht mal über die Ernährung nachdenken, gesünder leben", sagt Kapellmann. "Patienten sind nicht immer nur schwarz oder weiß. Patienten sind meistens im Graubereich. Man muss mit ihnen über ihr Leben nachdenken." Die Stelle des Gehirns, in der Dinge hinterfragt werden, war Kapellmann schon immer die liebste.

So kam es, dass der im heutigen Würselen geborene Weltenbürger Kapellmann, der als Kind mit seinen Cousins niederländisch und französisch sprach, der mit seinem sardischen Adoptivbruder italienisch redete, der in Köln Dolmetscher eines argentinischen Mitspielers war, der eine Finca auf Mallorca besitzt, der mit seinen Kindern einmal im Jahr Urlaub in der Ferne macht, 2010 in ein Land umzog, in dem er seine Vorstellungen moderner Medizin umsetzen konnte. Nach Saudi-Arabien.

Der Botschaftler mit dem Messer in der Hand

Ein ehemaliger Patient aus seiner Zeit in Rosenheim vermittelte ihn an eine Klinik nördlich der Hauptstadt Riad. Kapellmann darf dort eine orthopädische Station ganz nach seinen eigenen Vorstellungen leiten. Das beginnt damit, dass er und all seine Mitarbeiter ein Festgehalt bekommen - ohne Zuschläge. Also wird fast nicht operiert. 7000 Patienten hatte Kapellmann im vergangenen Jahr, aber er nahm sie nicht mehr nur als Nummern wahr. Er kann sich jetzt jedem Patienten so ausführlich widmen, wie er es für nötig hält. "Und wenn ich das Gefühl habe, dass einer eine Stunde lang reden muss, dann setze ich mich auch mal eine Stunde lang an sein Bett."

Ausgerechnet in Saudi-Arabien, wo Menschenrechtsorganisationen zahlreiche Menschenrechtsverletzungen beklagen, fand Kapellmann zu seiner ursprünglichen Leidenschaft für die Medizin zurück. Und wurde wieder zu einem Mittler zwischen zwei Welten, die zunächst unterschiedlicher kaum sein könnten.

Kapellmann sagt: "Ich bin der Botschafter mit dem Messer in der Hand."

Wenn er von seinen fast fünf Jahren in Saudi-Arabien erzählt, berichtet Kapellmann auch von ausgebeuteten Gastarbeitern, er erzählt von der Dominanz des Mannes, davon, dass Frauen auf der Straße eine Fremde auf den fehlenden Schleier aufmerksam machen. "Manchmal", sagt er, "ist das Mittelalter pur." Eine Patientin, die er am Oberschenkel untersuchen sollte, schnitt sich mit der Schere ein Loch in ihr Gewand, nur damit er, Kapellmann, nicht mehr als nötig von ihrem Körper sehen konnte. Aber eines hat Kapellmann in den Jahren auch gelernt: nichts sofort zu verurteilen. "Ich war immer schon sensibilisiert für diese fremde Welt", sagt er, "und mich hat niemand geholt, um meine Sichtweise auf die Welt zu verbreiten."

Vielmehr war es ja so: In der Fremde hat sich die Sichtweise auf seine eigene Welt verändert. "Ich habe noch nie so viele alte, kranke Menschen mit glücklichen Gesichtern gesehen", sagt er. "Wenn ich in Deutschland einen alten Patienten hatte, war der oft einsam, antriebslos, traurig. Aber in Saudi-Arabien kommen die immer mit drei Begleitern, die sind ganz anders eingebunden als bei uns." Und weil er sich Zeit nehmen konnte für seine Patienten, lernte er viel über deren Kultur.

Er lernte dabei eine Angst der Älteren kennen, sich dem Fremden zu öffnen. Und er lernte eine Neugierde der Jüngeren auf das Neue kennen. "Auch dort wird sich etwas verändern", sagt Kapellmann, "aber es wird noch lange dauern." Einen winzigen Anteil am Wandel, glaubt er, hat er dabei selbst. 50 bis 100 Patienten pro Jahr schickt er nach Deutschland, eine Reise, von der viele nicht nur gesünder, sondern auch aufgeklärter zurückkommen. Kapellmann sagt: "Ich bin ein Brückenbauer."

Das verdorbene Geschäft nicht länger mitmachen

Auf der Terrasse am Ostersee hat er nun fast zwei Stunden lang von seiner Leidenschaft für die Medizin erzählt. Über den Fußball hat er dagegen gar nicht gesprochen. Er war deutscher Meister, dreimal gewann er den Europapokal der Landesmeister, 1974 gehörte er zum Weltmeisterkader, auch wenn er nicht spielte. Ob ihm aus seiner ersten Karriere nichts fehle? "Es ist ja nicht so, dass ich eine pathologische Beziehung zu meiner Vergangenheit hätte", sagt Kapellmann, "aber um ehrlich zu sein: Nein, es fehlt mir überhaupt nichts."

Zum Ende seiner Karriere war er für ein paar Monate im Management des TSV 1860, auch damals eine anspruchsvolle Aufgabe. Er hörte bald auf. "Da musst du ja mit einem Bein im Knast sein", er wollte in diesem verdorbenen Geschäft, in dem seiner Erfahrung nach viele auf den eigenen Vorteil achten, nicht länger mitmachen. Außerdem wollte er "mit meinem Glück nicht abhängig sein von der Frage: Innenpfosten rein oder Innenpfosten raus." Der Fußball war ihm eine Freude, aber er war ihm nie der einzige Lebensinhalt.

Seine Mitspieler hatten das früh gemerkt. Außer dem Gehirn brachte er auch in Formalin eingelegte Leichen mit ins Trainingslager, er erklärte die Funktion des Kreuzbands, er zeigte, wo der Meniskus liegt. Viele hätte das interessiert, Sepp Maier natürlich, auch die Trainer Dettmar Cramer oder Udo Lattek. Andere waren skeptisch. Paul Breitner zum Beispiel, mit dem er oft diskutierte, auch darüber, wie kapitalistisch er, der Fußballer mit der Mao-Bibel, letztlich sei. Und Trainer Gyula Lorant sogar so sehr, "da hat es gereicht, wenn ich geblinzelt habe, und der war nervös".

Immer ein bisschen fremd geblieben

Dass er den Fußball ganz hinter sich gelassen hat, hat Kapellmann nie bereut. "Einen Pokal zu gewinnen, ist ein unvergleichbares Gefühl", sagt er, "aber wenn dich ein Patient glücklich und dankbar anschaut, wenn du weißt, dass es dem jetzt nur wegen dir besser geht, dann gibt mir das eine tiefe Befriedigung, die lange bleibt."

Es ist ein Gefühl, dass ihn nach wie vor antreibt. Ende des Jahres läuft sein Vertrag in Saudi-Arabien aus, er glaubt, dass er ihn nicht verlängern wird. Er will zurück nach Bayern, zu seiner Frau, zu seinen sieben Kindern. Er will dort auch weiter als Arzt arbeiten. Kapellmann will zurück in dieses Land, das ihm immer auch ein bisschen fremd geblieben ist.

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Quelle:
SZ vom 18.09.2015
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