Auf dem Marienplatz dudelsacken schottische Soccer-Fans in bester Laune noch die deutsche Nationalhymne. Ein paar Meter weiter kommt an diesem Mittwochabend und damit zwei Tage vor Anpfiff der Europameisterschaft in der Fröttmaninger Arena eine ganz und gar andere Gesellschaft im Alten Rathaus zusammen – und auch nicht ums Thema herum: „Wir haben ganz bewusst den vorletzten fußballfreien Tag genutzt, damit sie auch wirklich keine Ausrede haben, heute Abend nicht hier zu sein.“ Der evangelische Stadtdekan Bernhard Liess hat die Lacher im voll besetzten Saal auf seiner Seite, als er mehr als 200 Gäste zum Jahresempfang des Dekanatsbezirks München begrüßt.
Traditionell kommt hier eine recht bunte Gruppe zusammen: Vorne weg der evangelische Regionalbischof für München und Oberbayern, Thomas Prieto Peral, Mitglieder unterschiedlichster Religionsgemeinschaften von Archimandrit Peter Klitsch der griechisch-orthodoxen Kirchengemeinde der Münchner Salvatorkirche über Felix Ojo und Bona Mensah der seit bald 50 Jahren in München bestehenden Celestial Church of Christ und seiner aus Nigeria stammenden Gläubigen, bis hin zum Penzberger Imam Benjamin Idriz und der Vizedirektorin der dortigen islamischen Gemeinde Gönül Yerli. Viele Menschen, die in den Sozialorganisationen der Kirche arbeiten, treffen sich an diesem Abend im Alten Rathaus, Ehrenamtliche der über 200 000 Protestanten in den 63 Gemeinden des Stadtdekanats im Großraum München. Vertreter der Wirtschaft und selbstredend auch die hiesige Polit-Prominenz.
In Anbetracht des Wahlergebnisses vom vergangenen Sonntag sei es ihm ein Anliegen, sagt Liess, den Politikern seinen Dank auszusprechen, „die – so unterschiedlicher politischer Einstellungen sie auch sein mögen – sich für eine pluralistische, demokratische, bunte, liberale, menschenfreundliche, tolerante, offene und gerne auch queere Gesellschaft einsetzen“. Der Einsatz für diese demokratische Gesellschaft sei auch ein christliches Grundanliegen.
Und selbst wenn nach Begrüßungsreden und vielsprachigem, feinem Sound des Musik-Trios der „Sunshiny Day“ besungen und Kanapees mit Lachstatar, Pastrami und Dattel-Curry-Hummus gereicht werden: Beim Jahresempfang begnügt man sich diesmal nicht mit leichter Kost. Auch der Talk mit Fingerfood in der Hand ist mehr big als small.
Barbara Pühl, Leiterin der Evangelischen Dienste München, und Bernhard Liess moderieren eine Art filmischen Werbeblock für das Herz ihrer Angebotspalette: die Seelsorge. Etikettiert, frei nach Barack Obama, mit „Yes, we care!“, die Kümmerer der evangelischen Kirche. Da sprechen die Pfarrerin über ihre Arbeit mit trauernden Familien, die Krankenhaus-Pastoren über die bewegende Begleitung schwer kranker Kinder. CSU-Stadtrat und Kardiologe Hans Theiss, der in Vertretung des Oberbürgermeisters ans Pult tritt, zieht den Hut: Als Arzt wisse er, dass die Seele genauso wichtig sei wie der Körper. Er danke dem Dekanat für sein „riesengroßes Engagement“ in diesem Bereich.
„Ich hab’ bei jedem Thema gedacht, Mann, da könnten wir uns auch anschließen“, sagt später Gönül Yerli und balanciert die Häppchen mit Camembert und Frischkäse in der Hand. Die Religionspädagogin, die in der Türkei geboren und in Bayern aufgewachsen ist, steht mit Benjamin Idriz und seiner Frau Nermina zusammen. „Dieser Empfang ist meine heile Welt, wie ich Deutschland kenne, hier fühle ich mich willkommen.“ Umso mehr sei sie erschüttert, sagt Yerli, über den Rechtsruck bei den Europawahlen. Genau wie ihre drei Kinder, 24, 27 und 30 Jahre alt. „Unser Plan B ist: Wir verteidigen diese Demokratie, die uns so viel gegeben hat.“
An diesem Abend scheint jede jede zu kennen. Nebenan steht Helga Maria König, 85, Katholikin, gestützt auf einen Gehstock. Ein Leben lang ist sie schon in interreligiösen Zirkeln Münchens unterwegs. Gegessen habe sie noch nichts. „Dafür bin ich nicht da. Begegnung ist heute Abend das Wichtigste.“