Europas größtes Partyareal:Willenlos an Münchens Ballermann

Die Gäste sind jung, die Getränke billig: Seit 16 Jahren prägt die Kultfabrik das Münchner Nachtleben, doch bald soll hier ein neues Stadtviertel entstehen. Eine Chance, das Image als prolliges Partyghetto aufzupolieren. Aber ist es dort wirklich so schlimm? Ein nächtlicher Besuch in Europas größtem Partyareal.

Anna Fischhaber

"Hier kommst du nicht rein, Schätzchen." Freitagabend, kurz nach Mitternacht. Im Nox, jenseits des Smirnoff Highway, ist Dickenparty. Vor der Tür stehen drei gut gebaute Besucherinnen und beäugen jeden Neuankömmling kritisch. Eine Waage gibt es nicht, es gilt das Augenmaß - reingelassen wird nur, wer das nötige Gewicht mitbringt. Oder zumindest glaubhaft versichern kann, dass er einst dick war.

Ein paar Meter weiter im Schlagergarten, in der Jever Düne, ist Aussehen Nebensache. Vielleicht ist es deshalb so voll, dass man sich kaum bewegen kann. Der DJ hat gerade die Schlagerversion von Westerland aufgelegt. "Jeder Zweite hier ist genauso blöd wie ich", grölt das überwiegend männliche Publikum mit, im Hintergrund laufen seltsame Tierfilme. Willkommen in der Kultfabrik, wo die Gäste jung sind und die Getränke billig. Jedes Wochenende feiern hier bis zu 25.000 Menschen. Und zumindest im Schlagergarten ist man mitten drin, im Münchner Fabrik-Ballermann.

Die schiere Masse des Nachtlebens auf dem ehemaligen Pfanni-Fabrikgelände hinter dem Ostbahnhof setzte einst neue Maßstäbe im verschlafenen München - so viele Clubs auf so engem Raum, das hatte es bislang nicht gegeben. "Kartoffelland wird Party-Zone", schrieb damals die SZ über Europas größtes Partyareal, das so anders sei als alles bisher Gewesene.

Sechzehn Jahre ist das her, inzwischen ist heißt der Kunstpark Ost Kultfabrik und Optimolgelände. Etwa genauso lange wird die Party totgesagt, immer wieder hieß es, hier rückten bald die Abrissbagger an. Vor ein paar Wochen war es wieder soweit: Aus der "Kult" soll das "Rost" werden, ein lebendiges Viertel rund um den Ostbahnhof mit Büros, Hotels, Geschäften, 1000 neuen Wohnungen und einem fünf Hektar großen Park. Mütter statt Türsteher, Spielplätze statt Clubs.

Doch ein echter Abschied wird es wohl auch diesmal nicht. "Komplett vorbei ist hier nichts", sagt Kultfabrik-Sprecherin Janine Bogosyan. Die Party gehe weiter, natürlich. Gerade habe man den Vertrag für die nächsten fünf Jahre unterschrieben. Allerdings baut die Kultfabrik jetzt um: Das Nachtleben soll reduziert werden, stattdessen wolle man auf mehr Kultur setzen. Noch mehr. Denn: Längst gibt es in der Partystadt nicht mehr nur Clubs.

Jeder verbindet uns mit schlechten Umlanddiskos"

Fast 2000 Menschen arbeiten tagsüber auf dem Gelände, Künstler und Handwerker, Steuerberater und Schauspieler, es gibt einen Erlebnisspielplatz, ein Kartoffelmuseum, eine Kletterhalle und ein Theaterprojekt für junge Autoren. Etwa 4.500 Quadratmeter Fläche nehmen die Clubs noch ein - gegenüber 13.500 Quadratmetern Kultur (Stand: März 2010). Nur: Mitbekommen hat das in München bislang kaum jemand. Der Name Kultfabrik steht für Nachtleben - egal, was dort am Tag passiert.

"Jeder verbindet uns mit schlechten Umlanddiskos, dabei haben wir jede Menge Kultur- und Familienangebote", betont Bogosyan immer wieder und nippt an ihrem Wasser. Man kann sich die junge Frau, Anfang 30, zwar auf einem Rockkonzert, aber nur schwer in einer Umlanddisko vorstellen. "Früher bin ich auch hier weggegangen", sagt sie. Seit drei Jahren macht sie die Pressearbeit für das Gelände, kein leichter Job. Das studentische Nachtleben hat sich in die Innenstadt verlagert, schon lange bevor auch der Elektro-Club Harry Klein vor einigen Jahren vom benachbarten Optimolgelände weggezogen ist. Die Drei Türme schlossen Ende November - die Betreiber wollen ihren Fokus künftig vom Ostbahnhof direkt ins Umland verlagern.

Während aus dem Rest von Deutschland Touristenscharen kommen, nur um einmal auf Europas größtem Partyareal zu feiern und Bogosyan neulich sogar eine Delegation Lokalpolitiker aus Spanien begrüßen konnte, die dort ein ähnliches Gelände errichten wollen, gilt die Kultfabrik in München noch immer als prolliges Partyghetto. Kultur werde hier vor allem in Promillen gemessen, so das gängige Klischee.

Im kleinen Club Uschi, wo Ficken-Likör für 2,50 Euro ausgeschenkt wird, oder in der Kölsch-Bar, wo angeblich mehr Kölsch pro Quadratmeter konsumiert wird als in jeder Kölner Bar, trifft das wohl auch zu. "Kultur? Ist doch super Stimmung hier", lallt ein junger Mann. Doch schon lange gibt es in der Kultfabrik nachts nicht mehr nur Ballermann-Exzess: Im Eddy's etwa, wo alternde Oldiefans feiern, oder im düsteren Gothicclub Refugium werden auch abseitigere Musikgeschmäcker bedient. Und selbst der Q-Club, die letzte Großraumdisko auf dem Gelände, ist im Gegensatz zu seinen Vorgängern äußerst geschmackvoll eingerichtet. Sogar echte Kerzen gibt es hier.

"Wenn Kult, dann Willenlos"

Auch die Gewaltdelikte seien um rund zehn Prozent zurück gegangen, sagt Bogosyan, seitdem es vor und in den Clubs fast 40 Kameras gebe. Von der Russendisko Kalinka, vor allem bekannt für ihre nicht gerade sanften Vodka-Exzesse, ist nur noch der große Leninkopf übrig. Hier zieht nun das Willenlos ein. Der einzige Club der Kultfabrik, der - obwohl der Name Schlimmes vermuten lässt - inzwischen auch den ein oder anderen Studenten aus der Innenstadt lockt, will sich vergrößern.

Vor der Tür hat sich eine lange Schlange gebildet, im Hinterzimmer sitzt Geschäftsführer Manfred Retzer und tippt eifrig Zahlen in seinen Taschenrechner. Das Geschäft läuft gut - dabei gibt es auch hier vor allem Mainstream-Musik, Ficken-Schnaps und junge, leichtbekleidete Mädchen. "Aber wenn Kult, dann Willenlos, sonst kann man hier doch nirgends hingehen", sagt ein Student an der Bar. Seine Freunde nicken. "Das Gesamtkonzept stimmt", sagt Retzer im Hinterzimmer und grinst.

Das Willenlos soll auch den Familien erhalten bleiben, die ab 2014 die düsteren Gassen der Kultfabrik, die bislang allesamt nach Getränkeherstellern benannt sind, bevölkern. Und die Kantine. Hier funktioniert das Zusammenspiel bereits. Tagsüber treffen sich in der ehemaligen Werkskantine von Pfanni Arbeiter, Künstler und Clubbetreiber zum Mittagessen, abends gibt es inzwischen immer öfter Livejazz. Nur: So richtig voll ist es hier eher selten. Wer in die Kultfabrik kommt, sucht bislang Ballermann. Aber das kann sich ja noch ändern.

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