Europa:Wie der Brexit für Austauschstudenten zum Albtraum wird

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Auch Sam Purewal ist enttäuscht. Wie viele andere Erasmus-Studenten hat er für einen Verbleib von Großbritannien in der EU gestimmt. (Foto: Stephan Rumpf)

Sie sind als Europäer nach Deutschland gekommen, plötzlich sind sie Außenseiter.

Von Jakob Wetzel

Der Plan war klar: Erst ein Studium an einer Universität daheim in Großbritannien, dann Auslandserfahrung sammeln in München - und dann eine Karriere, gerne international. Doch seit Freitagmorgen ist alles anders: Vielen britischen Erasmus-Studenten und Doktoranden an den beiden Münchner Universitäten hat der bevorstehende EU-Austritt des Vereinigten Königreichs den Lebensentwurf durcheinandergebracht.

Da ist zum Beispiel Philip Wiseman aus Gloucestershire nahe der walisischen Grenze. Der 24-Jährige hat an der Universität Durham studiert, nun promoviert er an der Technischen Universität (TU) München in Astrophysik. Für seine Forschung nutzt er unter anderem die Europäische Südsternwarte in Garching. Beim Referendum habe er für den Verbleib in der EU gestimmt, so wie alle Briten, die er kenne, sagt er. Jetzt sei er traurig und immer noch fassungslos. In einem Jahr werde er mit seiner Doktorarbeit fertig sein, schätzt Wiseman, bis dahin werde sich für ihn zumindest nichts ändern. Danach aber werde es schwierig - egal, was er mache.

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"Ich werde sehen müssen, wie es dann weitergeht", sagt der Engländer. Wenn er bleibt, werde es womöglich komplizierter werden, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. "In England aber wird es in der Astrophysik wahrscheinlich weniger Stellen geben, weil in dem Bereich viel Fördergeld von der EU stammt." Er müsse jetzt sehen, ob er überhaupt in der Wissenschaft bleiben könne, meint Wiseman. Ansonsten wechsle er in die Industrie.

"Keiner weiß, wie es weitergeht"

"Das große Problem ist: Keiner weiß, wie es weitergeht", sagt Sam Purewal. "Es dauert ja wahrscheinlich ein halbes Jahr, bis wir überhaupt einen neuen Premierminister haben, und erst danach werden wir sehen, wie das ablaufen wird." Purewal, 21, kommt aus der Nähe von London und studiert Literaturwissenschaft in Exeter. Seit September ist er für zwei Erasmus-Semester an der Ludwig-Maximilians-Universität.

Chloe Freeman macht es wütend, dass die Brexit-Kampagne von Bosheit und Angst getrieben worden sei, von Xenophobie und Rassismus. (Foto: Catherina Hess)

Er ist einer von etwa 200 britischen Erasmus-Studenten in München. Auch er hat für den Verbleib gestimmt. Ob jetzt wirklich alles schlechter werde, wisse er zwar nicht, sagt er, aber für die Wirtschaft sei der Brexit schlecht, und damit auch für ihn und seine Familie. Er selber wolle später einmal eine Firma gründen, da seien die Aussichten außerhalb der EU deutlich schlechter, fürchtet er. Sein jüngerer Bruder wolle Französisch studieren und für ein Erasmus-Jahr nach Frankreich, auch da sei unklar, ob das noch gehe. "Und ich wollte meinen Master im Ausland machen, vielleicht in München. Das wird nun in jedem Fall schwieriger."

Andere Erasmus-Studenten treiben dieselben Gedanken um, zum Beispiel Chloe Freeman. Die 22-Jährige stammt aus Kent und studiert seit drei Jahren Chemie in Bristol, jetzt auf Master. Seit September ist sie für ein Erasmus-Jahr an der TU. Über die Brexit-Kampagne verliert sie kein gutes Wort: Sie sei von Bosheit und Angst vorangetrieben worden, schimpft sie, von Xenophobie und Rassismus.

Desmond Henaghen wird seiner Heimat den Rücken kehren

Besonders ärgert sie sich über die britischen Senioren, von denen so viele für den Austritt gestimmt hätten, gegen die Interessen der Jungen. "Es ist ein komisches Gefühl, als Teil der EU nach Deutschland gekommen zu sein, und das Land in Kürze als jemand zu verlassen, der nicht mehr wirklich dazugehört", sagt Freeman. Sie liebe fremde Sprachen und habe bereits in mehreren Ländern gelebt. Sie sei nach wie vor entschlossen, nach dem Studium wieder ins Ausland zu gehen. Die Vorstellung, dass das nicht mehr möglich oder erheblich schwieriger sein könnte, sei seltsam.

Desmond Henaghen hingegen wird seiner Heimat nun womöglich den Rücken kehren. Der 21-jährige Schotte studiert Informatik an der University of Strathclyde in Glasgow. Gerade ist er für ein Erasmus-Jahr an der TU, in wenigen Wochen beginne er noch ein einjähriges Praktikum bei einer Münchner Firma, erzählt er. Gestimmt hat auch er für den Verbleib. Er sei in der Nacht auf Freitag vor Aufregung erst um fünf Uhr morgens schlafen gegangen, erzählt er; aufgewacht aber sei er in einem Albtraum, der Brexit sei eine Katastrophe.

Er könne sich kaum vorstellen, außerhalb der EU zu arbeiten, sagt er. Noch dazu habe seine Freundin, eine Europäerin, jetzt das Gefühl, in Großbritannien nicht mehr willkommen zu sein. Er setze auf ein unabhängiges Schottland, sagt Henaghen: 2014 hätten viele Schotten nur deshalb nicht für die Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich gestimmt, weil sie fürchteten, dann die EU verlassen zu müssen. Jetzt sei das anders. "Wenn Schottland unabhängig wird und in der EU bleibt, dann kehre ich definitiv nach Hause zurück", sagt Henaghen. "Wenn nicht, wer weiß? Vielleicht bleibe ich dann in Deutschland."

© SZ vom 28.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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