Essstörungen:Gesund werden mit Kirschstrudel

Essstörungen: "Sie meinen, nur wenn sie dünn sind, sind sie beliebt und erfolgreich": Karin Lachenmeir, Leiterin des TCE, über ihre Patienten.

"Sie meinen, nur wenn sie dünn sind, sind sie beliebt und erfolgreich": Karin Lachenmeir, Leiterin des TCE, über ihre Patienten.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Im Therapie-Centrum für Essstörungen sollen Mädchen und Frauen die Kontrolle über ihren Körper zurückbekommen: mit Gesprächen, Kunsttherapie und sieben Mahlzeiten am Tag.

Von Sarah Beham

Lena K. ist krank. Sie ist 13 Jahre alt, aber sie hat nicht die üblichen Teenager-Probleme. Lena findet sich zu dick, sie ist magersüchtig. Das ist keine ansteckende Krankheit, doch sie betrifft die ganze Familie. Ihre Mutter Andrea K. sagt: "Neben einem vollen Kühlschrank wurde mein Kind immer weniger." Sie erinnert sich an einen Thermenausflug mit Freunden. Lena kam mit blauen Flecken zu ihr. Das Rutschen tat ihr weh. "Kein Wunder, wenn sie nur auf Knochen rutscht", meint Andrea K. Bitten und reden brachte nichts - immer wieder nur kam der Satz zurück: "Was weißt du schon, lass mich in Ruhe".

Magersucht, auch Anorexie genannt, ist die am weitesten verbreitete Essstörung in Deutschland. 20,2 Prozent der Mädchen im Alter von elf Jahren leiden an einer Essstörung. "Ich wollte, dass es mir wieder besser geht", sagt Lena K. heute. Ihre Mutter hat sich deshalb Hilfe beim Therapie-Centrum für Essstörungen (TCE) in München geholt. Hier gibt es eine Tagesklinik und eine therapeutische Wohngemeinschaft. Zwei Drittel der Patientinnen sind magersüchtig, ein Drittel leidet an Bulimie, also an Ess-Brechsucht.

Anfang des Jahres ist das TCE umgezogen nach Neuhausen. Helle Räume, braunes Laminat. Ein paar Umzugskartons stehen noch herum, an den Wänden fehlen Bilder. Die Kosten für die Therapie in der Tagesklinik werden von Krankenkassen übernommen. Die für die Wohngemeinschaft vom Jugendamt oder Bezirk. Doch manche Eltern wollen das Jugendamt nicht einschalten und sich den Papieraufwand und die Bürokratie sparen. Dann zahlen sie selbst 700 Euro im Monat.

Wohngemeinschaft nur für Mädchen

Lena. K. ist seit September 2015 in einer Wohngemeinschaft des TCE. Hier wohnt sie mit sieben weiteren Mädchen im Alter von zwölf bis 15 Jahren zusammen. Am Wochenende dürfen sie heim. Unter der Woche haben sie Gespräche, Körper- oder Kunsttherapie, zwei Stunden Schulunterricht und gemeinsame Essenszeiten. Die Therapiedauer beträgt je nach Altersgruppe zwischen sechs und acht Monaten.

Auch für 16- bis 25-Jährige gibt es 25 Plätze. Auch sie können in Wohngemeinschaften zusammenleben. Buben mit Essstörungen können im Alter von zwölf bis 15 Jahren an den Therapien teilnehmen, nicht aber in der Wohngemeinschaft. Denn die Mädchen schlafen jeweils zu zweit in einem Zimmer. "In diesem Alter wäre das schwierig, zusammen mit Jungs zu wohnen", erklärt Karin Lachenmeir, Leiterin des TCE. Bei Männern ist das Problem ohnehin weniger ausgeprägt als bei Frauen.

Die Mädchen hier in der Wohngemeinschaft sind schüchtern. Ein bisschen sieht es aus wie bei einem Aufenthalt im Schullandheim. Zusammen schauen die Mädchen auf der grauen Couch im Wohnzimmer fern - Germany's Next Topmodel ist verboten. Denn Sendungen wie diese, aber auch Abnehmwerbungen oder Beiträge mit Prominenten wie Angelina Jolie, beeinflussen die Mädchen, sagt Lachenmeir.

Ein normales Leben ist unmöglich

Die Mädchen im TCE haben einen extremen Bewegungsdrang, oft kontrollieren sie ihre Figur vor dem Spiegel, sie tasten ihren Körper ab und zählen Kalorien. Wenn das Abnehmen lebensbestimmend werde und die Gedanken nur darum kreisten, dann sei das eine Krankheit, sagt Lachenmeir. Dann sei ein normales Leben mit Arbeiten oder Schule unmöglich. Doch hier im TCE müssen die Mädchen essen. Siebenmal am Tag: Frühstück, Zwischenmahlzeit, Mittagessen, Zwischenmahlzeit, Kaffee, Abendessen, Zwischenmahlzeit. Es gibt nicht nur Obst, sondern auch Kirschstrudel mit Vanillesauce und Fischstäbchen mit Kartoffelpüree.

Wenn der Bewegungsdrang nach dem Essen zu hoch wird, dann beißen die Mädchen auf Peperoni oder tanzen zu lauter Musik. Am Anfang ihrer Therapie durften sich die Mädchen nur 40 Minuten am Tag bewegen. Da zählt sogar der Gang zur Toilette. Doch den Mädchen geht es hier besser. Lena K. ist noch bis Mai im TCE, die 13 Jahre alte Lea B. auch. Wenn die Mädchen jetzt vor dem Spiegel stehen, dann sagen sie wenigstens nicht mehr, dass sie sich hassen. Trotzdem ist es noch schwer.

Die Kunsttherapie helfe den Mädchen sehr, meint Lachenmeir. Auch bei der Selbstwahrnehmung. Im Kunstraum hängt ein Bild mit zwei Umrissen. Die Mädchen müssen ihren Umriss malen, wie sie sich selbst einschätzen. Danach erst wird der echte Umriss eingezeichnet. Ein Mädchen hat sich alleine beim Hüftumfang um 20 Zentimeter falsch eingeschätzt.

Die Ursachen für eine Essstörung variieren von Person zu Person, sagt Lachenmeir. Das können Probleme mit der Familie sein, Medien, Freundinnen oder ein hoher Leistungsanspruch bei einem geringen Selbstwertgefühl. Die häufigste Frage, die die Patientinnen der Leiterin stellen: "Gibt es eine Möglichkeit, gesund zu werden und dünn zu bleiben?" Lachenmeir sagt dazu: "Sie meinen, nur wenn sie dünn sind, sind sie beliebt und erfolgreich."

Betreuung nach der Therapie

Doch was geschieht nach dem Aufenthalt beim TCE? Da gibt es eine Nachbetreuung mit gemeinsamen Mahlzeiten, Gesprächsgruppen und einer Ernährungsbilanz. Laut Lachenmeir liegt die Erfolgsquote bei Abschluss der Therapie von Anorexie bei 91 Prozent. Nach der Therapie haben die meisten Frauen durchschnittlich 12,2 Kilogramm zugenommen. Dennoch können Essstörungen die Betroffenen ein Leben lang begleiten.

Andrea K., die Mutter von Lena, hofft, dass die Probleme von Magersucht noch bekannter gemacht werden. "Man muss den Mädchen klar machen, was das für Folgen haben kann. Das kann mit dem Tod enden." Und sie wundert sich über die Bekleidungsgeschäfte: Als ihre Tochter Lea mit zwölf Jahren magersüchtig wurde, hat sie immer noch Hosen gefunden, die ihr perfekt passten.

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