Not-Kitas in München:"Oder macht ihr das hier nicht so?"

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Willkommen in einer fremden Welt: Charlotta (rechts) fühlt sich am Montagmorgen noch nicht so wohl im Kinderhaus an der Nanga-Parbat-Straße. (Foto: Stephan Rumpf)
  • Die städtischen Kitas in München besuchen rund 34 000 Kinder.
  • Während des Streiks der Erzieherinnen hat die Stadt 40 Not-Kitas eingerichtet, in denen jeweils 25 Kinder unterkommen können.
  • Alle 1000 Plätze in der Stadt sind besetzt, einige mussten wegen der großen Nachfrage verlost werden.

Von Wiebke Harms

Dicke Tränen kullern über Charlottas Wangen. Sie klammert sich an das Bein ihres Vaters Uwe Jentzsch, presst die laufende Nase gegen seinen Oberschenkel. Die Fünfjährige will nicht in dem fremden Kindergarten bleiben. "Wollen wir jetzt damit aufhören?", fragt der Vater. "Erde an Lotte!" Das Kind antwortet mit noch mehr Tränen. "Sie braucht ihre 15 Minuten", sagt Jentzsch und hockt sich neben seine Tochter. Mit ihrer bunten Mütze wischt er dem Mädchen die Tränen von den Wangen.

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Charlotta kann diese Woche nicht in ihrer gewohnten Kita in der Dillinger Straße spielen. Die Einrichtung hat geschlossen, weil die Erzieherinnen erneut streiken, nicht nur für einen Tag, sondern auf unbestimmte Zeit. Der Streik belastet Eltern mit Kindern in städtischen Kindergärten, Horten und Krippen. Sie müssen Großeltern und Freunde um Hilfe bitten, Urlaub nehmen, von zu Hause aus arbeiten oder andere Betreuungswege finden. Für die, denen das nicht gelingt, hat die Stadt 40 Not-Kitas eingerichtet - wie hier im Kinderhaus in der Nanga-Parbat-Straße in Moosach. Jeweils 25 Kinder können in einer Not-Kita unterkommen. Alle 1000 Plätze in der Stadt sind besetzt, einige mussten wegen der großen Nachfrage verlost werden. Die städtischen Kindergärten besuchen insgesamt etwa 34 000 Kinder. Am Montag blieben etwa 60 Prozent der Einrichtungen wegen des Streiks geschlossen.

Vertraute Gesichter in unbekannter Umgebung

Während sich ihre Eltern, beide berufstätig, über die Notbetreuung freuen, ist Charlotta skeptisch. Fremde Spielsachen, andere Zimmer und viele Kinder, die sie noch nicht kennt. "Och, Charlotta! Das ist doch kein Papagarten, das ist ein Kindergarten!", ruft Susanne Frank vom anderen Ende des Flurs. Charlotta schaut auf. Sie kennt die Erzieherin aus ihrer Kita. Die Fünfjährige ergreift ihre ausgestreckte Hand. Neben zwölf Kindern sind auch vier Erzieherinnen aus der Dillinger Straße gekommen. Sie ersetzen streikende Kollegen, und die vertrauten Gesichter erleichtern den Kindern die Umgewöhnung.

Die fällt jedoch nicht allen so schwer wie Charlotta. Kim, Ismail und die Brüder Tim und Marc jauchzen beim Kickern vor Freude, obwohl alle vier kaum über den Rand des Tisches aufs Spielfeld schauen können. In ihrer Kita in der Dellinger Straße gibt es keinen Fußballtisch.

Dort organisieren Erzieherinnen, die nicht in den Streik getreten sind, einen Notbetrieb. (Foto: Stephan Rumpf)

Auch sonst ist dort einiges anders. In der Dellinger Straße spielen, essen und basteln die Kinder in festen Gruppen. Je 23 Kinder, die von drei bis vier Erziehern betreut werden. Die Kita in der Nanga-Parbat-Straße versteht sich als "offenes Haus". Die 50 Kindergarten- sowie 50 Hortbesucher entscheiden selbst, wo sie spielen wollen. Ein Mädchen steckt dafür eine grüne Holzkarte in das mit ihrem Namen bedruckte Fach in einem Steckkasten. Die Kita-Mitarbeiter wissen nun: Sie spielt im Kindergarten. Hält sie sich an die Regeln, bleibt sie für mindestens eine halbe Stunde dort.

Eltern sind oft schwieriger als die Kinder

Statt wie in ihrer normalen Arbeitsstätte in der Dillinger Straße auf eine feste Gruppe aufzupassen, betreut Jina Demir heute das Bauzimmer mit wechselnden Kindern. "Komm einfach rüber, wenn du Fragen hast", sagt eine Erzieherin aus der Nanga-Parbat-Straße und geht in den Nebenraum. Wie alle Erwachsenen und Kinder trägt sie heute ein Namensschild. Zwei Buben haben genug von den Bauklötzen. "Wir gehen in den Garten", sagt einer zu Demir. "Aber ihr müsst erst noch aufräumen", mahnt sie die Buben. Die zieren sich anfangs, sagen: "Das ist nicht von uns." "Aber ihr müsst die Sachen wegräumen, mit denen ihr gespielt habt. Oder macht ihr das hier nicht so?" Als die Buben merken, dass sie auch bei der fremden Erzieherin aufräumen müssen, sammeln sie die Bausteine ein.

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Von Wiebke Harms

"Kinder sind pflegeleicht, schwieriger ist es mit den Eltern", berichtet Ulla Belser. Sie leitet das Kinderhaus seit elf Jahren. "Aber bislang haben erst zwei angerufen, um zu fragen, ob alles okay ist." In den Ferien nehmen Belser und ihre Mitarbeiter häufig Kinder aus anderen Einrichtungen auf.

Im Tanzraum schlagen Kinder Purzelbäume auf einer Matte. Sie gehören zu den 21 regulären Besuchern, die heute gekommen sind. Nur Maxi sitzt auf der Fensterbank und beobachtet sie. Der kleine Junge gehört zu den Besucherkindern. Er hat sich zwar ganz allein ins Zimmer mit den anderen Kindern gewagt, mitzumachen traut er sich aber noch nicht. Nach einer Weile steht er auf und läuft aus dem Raum. Die Erzieherin bittet ein Mädchen, ihm zu folgen, damit er nicht allein durchs Haus laufen muss. Im Zimmer nebenan sitzen Charlotta und Susanne Frank nebeneinander. Die Tränen sind getrocknet, aber das Mädchen weicht noch nicht von Franks Seite. "Isst das Tier Fleisch oder Gras?", fragt Frank. Sie soll raten, welche Stofftiere Charlotta besitzt. Gerade sucht sie eines mit dem Anfangsbuchstaben "P". Charlotta überlegt. "Fisch", sagt sie dann. "Ein Pelikan!" - "Nein." - "Ein Pinguin!" Charlotta nickt und lacht. Sie greift Franks Hand, gemeinsam gehen Kind und Erzieherin den nächsten Raum erkunden.

© SZ vom 12.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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