Online-Ausstellung:Kindl für München

Online-Ausstellung: "Münchner Kindl" wider Willen: Auf einem Sklavenmarkt in Brasilien kauften Karl von Martius und Johann Baptist von Spix den Jungen "Iuri" Anfang des 19. Jahrhunderts und verschleppen den Zehnjährigen an die Isar, wo er sechs Monate später starb. Die Farblithographie stammt aus dem Atlas zur Reise in Brasilien der beiden Wissenschaftler.

"Münchner Kindl" wider Willen: Auf einem Sklavenmarkt in Brasilien kauften Karl von Martius und Johann Baptist von Spix den Jungen "Iuri" Anfang des 19. Jahrhunderts und verschleppen den Zehnjährigen an die Isar, wo er sechs Monate später starb. Die Farblithographie stammt aus dem Atlas zur Reise in Brasilien der beiden Wissenschaftler.

(Foto: Archiv und Bibliothek des Erzbistums München und Freising)

Eine Ausstellung der Erzdiözese München und Freising widmet sich dem Thema "Münchner Kindl": Was heimelig klingt, war es in der Historie oft nicht. In Tauf- und Sterbebüchern der katholischen Innenstadtgemeinden fanden sich unter dem Begriff auch aus ihrer Heimat verschleppte Buben und Mädchen oder Findelkinder.

Von Andrea Schlaier

Iuri haben sie den Jungen mit dem verlorenen Blick erst einmal genannt. Iuri, wie das Volk aus dem Amazonas, aus dem er stammt. Zwei Äxte kostet das zehnjährige Kind bei den einheimischen Sklavenhändlern. Der Mediziner und Botaniker Karl von Martius und der Zoologe Johann Baptist von Spix nehmen den Buben mit der trapezförmigen Tätowierung der Oberlippen- und Wangenpartie 1820 mit heim nach München, von ihrer Brasilienexpedition, zu der sie im Auftrag des Königs Max I. Joseph von Bayern im Februar 1817 aufgebrochen sind. Und ein zwölfjähriges Mädchen der Miranha shoppen sie gleich auch mit. Zwei "Indianer"-Kinder, wie es heißt, für "Forschungszwecke".

Noch in Brasilien werden die beiden getauft, bayerisch-katholisch auf die Namen Johann Iuri und Isabella. Zwei gekaufte und missbrauchte Seelen, die, kaum an der Isar angekommen, herumgezeigt werden wie exotische Tiere. "Münchner Kindl" wider Willen. Mit dem vermeintlich heimeligen Begriff haben Archiv und Bibliothek des Erzbistums München und Freising jetzt ihre aktuelle Online-Ausstellung überschrieben (www.erzbistum-muenchen.de/archiv-und-bibliothek). Einen bewusst "vergifteten Titel" nennt es Roland Götz, stellvertretender Direktor der Einrichtung.

Tauf-, Trauungs- und Sterbebücher waren bis 1876 die einzigen Personenstandsregister

Es gehe darum, sagt Götz, "welche schriftlichen Spuren Menschen in München hinterlassen haben, die nicht dem Klischee vom ,Münchner Kindl' entsprechen." Als Hauptquelle für die Lebensläufe des 17. bis 19. Jahrhunderts, die offen gelegt werden, dienten den Wissenschaftlern dabei "Pfarrmatrikel", überwiegend der Münchner Innenstadtpfarreien. Diese Tauf-, Trauungs- und Sterbebücher waren bis zur Einführung der staatlichen Standesämter 1876 in Bayern die einzigen Personenstandsregister.

Hier findet sich auch "Morgan", den der Wittelsbacher Herzog Maximilian in Bayern, Vater der späteren Kaiserin Elisabeth "Sisi" von Österreich, 1838 mit seinen Begleitern bei der gemeinsamen Orientreise auf dem Sklavenmarkt von Kairo gekauft hat - neben vier weiteren "Mohren" im Alter zwischen zwölf und 16 Jahren. Sie waren davor im Kindesalter schon von arabischen Sklavenhändlern aus ihrer subsaharischen Heimat entführt worden. 37 Thaler, genauer 750 Piaster, verlangte der Tabakhändler am Nil für Morgan.

Ausgestellt wie Trophäen werden die afrikanischen Buben im Dom getauft

In den gelbstichigen Pfarrmatrikeln finden sich auch Splitter zur Herkunft des Buben: "Morgan; ... er ist wahrscheinlich ein Nubier, ungefähr 12 Jahre alt." So genau wollten es die Münchner Hochwohlgeborenen vermutlich ohnehin nicht wissen: Von 30. März 1839 an heißt "Morgan" Alexander. Am prominentesten Tauftermin, den die katholische Kirche zu bieten hat, dem Karsamstag, werden die fünf Jugendlichen regelrecht ausgestellt und im Dom "Morgens zwischen 8 ½ und 9 ½ Uhr" formal zu Christen gemacht.

Wer will, kann in der virtuellen Ausstellung je nach Wissensdurst mehr oder weniger tief in die historischen Akten eintauchen, die eingeordnet und illustriert werden. Man wolle, sagt Götz, ausgehend von den lokalen Quellen weltweite Perspektiven und grundsätzliche Fragen wie die nach Freiheit, religiöser Selbstbestimmung, Respekt vor kulturellen Identitäten und Diskriminierung stellen und damit auch zur selbstkritischen Besinnung auf die frühere Haltung und Vorgehensweise der Kirche insgesamt anregen. Auch deshalb hat man den Ausstellungsbeginn in die Zeit der aktuellen Internationalen Wochen gegen Rassismus gelegt.

Die verzweifelte Mutter steckt ihrem Kind einen Zettel in die Windel

Ein Knopfdruck in der Schau reicht aus fürs authentische Aktenstudium: Original-Handschriften werden über eine Transkriptions-Funktion in Druckbuchstaben übersetzt. Das gilt auch für den kleinen Zettel, den eine verzweifelte Mutter ihrem Sohn in die Windel gesteckt hat, bevor sie ihn am Nachmittag des 6. Oktober 1808 vor der Haustür des Kürschnermeisters Jakob Bacchy in der Weinstraße legt: "Dieses Kind ist schon getauft worden. 8 Tage ist er alt. Ich bitte ihnen, ich konnte mir nicht anders helfen als das Kind nieder zu legen. Ich bitte ihnen, sein sie Mutter und Vatter zu den Kind. Gott wird ihnen schon helfen..."

Online-Ausstellung: "Ich bitte ihnen, sein sie Mutter und Vatter zu den Kind": Darum hatte die leibliche Mutter des Findelkindes Joseph Fletz auf einem selbst verfassten Zettel gebeten, den sie 1808 zusammen mit ihrem Buben in einem Hausflur der Weinstraße ablegte.

"Ich bitte ihnen, sein sie Mutter und Vatter zu den Kind": Darum hatte die leibliche Mutter des Findelkindes Joseph Fletz auf einem selbst verfassten Zettel gebeten, den sie 1808 zusammen mit ihrem Buben in einem Hausflur der Weinstraße ablegte.

(Foto: Archiv und Bibliothek des Erzbistums München und Freising)
Online-Ausstellung: undefined
(Foto: Archiv und Bibliothek des Erzbistums München und Freising)

Joseph wird dieser Bub mit Vornamen heißen. Fletz mit Nachnamen. So wie die bayerische Bezeichnung für Hausflur, wo er gefunden wurde. In der Zeit um 1800 werden in München 25 Findelkinder im Jahr getauft. Eine Menge.

Joseph und Iuri, zwei "Münchner Kindl", die fast gleich alt waren und ein halbes Jahr lang in derselben Stadt lebten. Sechs Monate nach seiner Ankunft an der Isar stirbt "Johann Iuri" am 11. Juni 1821 mit elf Jahren "an der Lungensucht". Ein Jahr später verzeichnen die Sterbebücher der Dompfarrei auch den Tod von "Isabella vom Stamm der Miranhas". Sie wird an Iuris Seite im Alten Südlichen Friedhof beerdigt.

Dom-Führungen für Nicht-Christen

Analog zur Ausstellung "Münchner Kindl" soll künftig auch der Blick im Liebfrauendom geweitet werden, sagt Dompfarrer Klaus Peter Franzl, egal welchen Glaubens und welcher Herkunft die Besucher sind. Deshalb gibt es ab sofort eine "neue Führungslinie" im spätgotischen Kirchenbau. Gedacht ist sie für Gäste ohne "christliche Sozialisation". Ihnen soll - auch anhand eines mehrsprachigen Flyers - der christliche Glaube an sich verständlich gemacht werden, etwa am Beispiel der Ausrichtung des Hauptportals nach Osten und damit der aufgehenden Sonne, die symbolisch für die Auferstehung Jesu Christi steht. Eine Führung findet am Samstag, 1. April, um 14 Uhr statt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: