Süddeutsche Zeitung

200 Jahre Erzbistum:Vertreibung aus dem Paradies

Das Erzbistum München und Freising entstand, nachdem die Säkularisation das Verhältnis von Staat und Kirche neu definiert hatte. Heute, 200 Jahre später, muss der Bischofssitz erneut um seine Bedeutung fürchten.

Von Hans Kratzer

Als Papst Benedikt XVI. im Herbst 2006 seine alte Heimat besuchte, keimte kurz das Gefühl auf, als ob der alte bayerische Volkskatholizismus, der schon zerbröselte, noch einmal mit einer Kraft aufflackerte, die man ihm nicht mehr zugetraut hatte. Auch in Freising schoben sich bei seinem Besuch Zehntausende einigermaßen ergriffen durch die Straßen. Natürlich hatte die Stadt in ihrer ewig langen Geschichte viele herausragende Tage erlebt, aber der Besuch eines Papstes ragte halt weit heraus.

Der Abstecher Benedikts XVI. hatte gute Gründe, denn kaum eine Region in Bayern steht auf einem vergleichbaren historischen Fundament wie das Erzbistum München und Freising, das in diesem Jahr sein 200-jähriges Bestehen feiert. Um die kulturelle und religiöse Dimension Freisings aber in seiner Gänze zu erfassen, muss man nochmals mindestens tausend Jahre zurückblicken.

Der Freisinger Bischof Arbeo hatte schon im achten Jahrhundert geschwärmt, die Gegend sei "lieblich anzusehen, reich an Hainen, wohlversehen mit Wein". Alles in allem schilderte er seine Heimat als ein Paradies, wie man es sich heute kaum mehr vorstellen kann. Eine Art Paradies ist dieses Land durchaus geblieben, aber mit einem ganz anderen, vor allem von wirtschaftlicher Prosperität geprägten Gesicht.

Die Umgebung von Freising änderte quasi ihre Hardware, auf den Wiesen und Feldern erwuchsen die Millionenstadt München und ein Weltflughafen, die einen starken Kontrast zur Idylle des Arbeo setzten. Gerade dieses Spannungsfeld von pulsierender Internationalität und altgewohnter ländlicher Struktur prägt nun anstelle der einst besungenen Hirsche und Rehe das Erzbistum München und Freising, das kraft seiner Wandlungsfähigkeit viele große Persönlichkeiten hervorgebracht hat und mit Joseph Ratzinger sogar einen Papst, der in Freising ausgebildet und dann zum Priester geweiht wurde.

Dass der Keim des Erzbistums auf Freisinger Boden aufging, ist einem Mann namens Korbinian zu verdanken, der im Jahr 724, als die Gründung Münchens noch in weiter Ferne lag, von Paris aus ins altbayerische Kernland marschiert war. Das Geschlecht der Agilolfinger hatte ihn an den Freisinger Hof gerufen, er sollte im Herrschaftsgebiet eine kirchliche Struktur errichten. Korbinian gilt deshalb als geistlicher Vater des Bistums, sein Gedenktag wird heute noch jeden November auf dem Domberg gefeiert. Der Gründer des Bistums war er jedoch nicht, sein Tod fuhr zu früh dazwischen. Letztlich oblag es dem Missionar Bonifatius, im Jahr 739 auf päpstliches Geheiß hin die Diözese Freising ins Leben zu rufen und auch die Bistümer Salzburg, Regensburg und Passau.

Freising sollte von da an mehr als tausend Jahre lang als Bischofssitz ins Land hinausstrahlen. Die Umstände waren volatil und beileibe nicht immer fromm und heil. Die Stürme der Zeit brandeten zeitweise orkanartig gegen die Mauern des Bistums, das trotzdem allen Kriegshändeln und selbst den Wirren der Reformationszeit standhielt.

Nachdem Freising 1294 zum Fürstbistum erhoben worden war, übte der Bischof über Teile des Landes auch die weltliche Souveränität aus. Freilich blieb das Gebiet, in dem der Bischof neben seinem geistlichen Amt auch weltlich herrschte, überschaubar. Das Bistum aber wuchs durch Erwerb, Schenkungen, Kolonisation und Missionierung immer weiter, bis die Fürstbischöfe ihr Gebiet nicht einmal mehr per Fernsicht an Föhntagen überblicken konnten. Das Territorium erstreckte sich bis nach Niederösterreich, in die Steiermark und nach Kärnten, und sogar in Südtirol und Slowenien fanden sich Freisinger Immobilien und Besitztümer.

Noch heute sticht der kulturelle Glanz ins Auge, der sich besonders nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) im Bistum entfaltete. Mit den Barockbauten wuchsen ebenso zeitlose Attraktionen heran wie mit den Kunstwerken der Brüder Asam, die vielerorts das Landschaftsbild und die Kirchen prägen. Auch in der Ausstattung des Freisinger Doms spiegelt sich ihr Genius wider. Freilich stehen Glanz und Genialität häufig mit dem Teufel im Bunde, auch in Freising gingen mit den Höhenflügen in Kunst und Kultur Verirrungen einher, etwa die Hexenprozesse von 1715 bis 1723, in deren Verlauf sogar Bettelkinder hingerichtet wurden.

Trotzdem drängte alles nach vorne, zuvörderst die Kräfte der Aufklärung und der Erneuerung, und irgendwann ging die Zeit über die verkrustete Ordnung der alten Obrigkeiten hinweg. Erst recht durch die napoleonischen Umwälzungen, aus denen unter Schmerzen ein neu geordnetes Europa hervorging. Im selben Zuge schwappte 1803 die Säkularisation über das Bistum Freising und spülte eine tausendjährige Kirchentradition hinweg. Die Ära des Bistums Freising war beendet, die Fürstbischöfe verloren ihre Macht, das Hochstift Freising fiel an das 1806 von Napoleons Gnaden errichtete Königreich Bayern.

Dass der Freisinger Bischofsstuhl nicht mehr neu besetzt wurde, hatte zur Folge, dass das Bistum 18 Jahre lang nur provisorisch verwaltet wurde. Nun geriet erst recht alles ins Wanken, und die Gräben in der Bevölkerung klafften ähnlich weit auf wie heute unter dem Einfluss von Corona und Social Media. Hardliner wie der Minister Montgelas drängten in Bayern auf radikale Erneuerung, aber das Volk, durch und durch bäuerlich geprägt, hielt eisern an den Denkmustern der Barockzeit fest.

Während Hirtenbriefe und Fürstenmandate gegen den Aberglauben donnerten, lief das Volk jenen Bauernpfarrern zu, die ihnen durch Wunderkerzen und Teufelsbeschwörungen Heil und Segen versprachen. Und wenn Seuchen wüteten, wenn die Kühe angeblich rote Milch gaben, suchte man die Kapuziner von Traunstein auf, die eben mit geweihten Lukaszetteln, mit Benediktion und mit Exorzismus Nothilfe leisteten.

Immer stärker spürte Freising jetzt den Druck der Nachbarstadt München, von der aus die Pfeile der Säkularisation besonders zahlreich nach Freising flogen. Nicht nur, dass die alten Klöster aufgehoben und der Dom gesperrt wurde. Kapellen wurden niedergerissen, Abtei- und Stiftskirchen wurden ruiniert. Das waren quasi die Geburtswehen der neuen Ordnung, in der überall die Grenzen neu gezogen wurden, was nicht zuletzt in komplizierte Verhandlungen mit der Kurie mündete, die durchaus an die Kämpfe in der heutigen EU erinnern.

Letztlich wurden Bamberg sowie München und Freising zu Erzdiözesen erhoben, letztere bekam mit Augsburg, Regensburg und Passau drei Suffraganbistümer. Es dauerte bis 1821, bis die Neuordnung auf Basis des Konkordats von 1817 und der Bayerischen Verfassung von 1818 im Münchner Dom verkündet wurde. Das neu konstruierte Erzbistum München und Freising hat in den damals gezogenen Grenzen weitgehend bis heute überdauert.

Die Neuerungen waren geradezu revolutionär. Der Bischofssitz war nun München, zum Dom wurde die Münchner Frauenkirche erhoben, das Bistumsgebiet war durch Gebiete aus dem ehemaligen Bistum Chiemsee und Teilen des Erzbistums Salzburg deutlich vergrößert, und der Oberhirte erhielt den Titel eines Erzbischofs.

Dass Freising nicht gänzlich ins Hintertreffen geriet, belegt der Name des Erzbistums, der München und Freising gemeinsam nennt. Im Freisinger Dom, der später zur Konkathedrale ernannt wurde, finden nach wie vor Zeremonien und Priesterweihen statt. Den Ruhm der Stadt Freising trug auch Benedikt XVI. gut sichtbar weiter, indem er zwei Freisinger Zeichen in seinem Papstwappen führt: einen Bären als Symbol des heiligen Korbinian sowie einen gekrönten Mohr als ehemaliges Herrschaftszeichen der Fürstbischöfe. Überdies ist Freising seit dem 19. Jahrhundert Sitz der Bischofskonferenz der bayerischen Oberhirten und des Bischofs von Speyer, dessen Bistum bis 1946 zu Bayern gehörte.

Die Bedeutung des Erzbistums wird dadurch betont, dass die Münchner Erzbischöfe seit Franziskus von Bettinger (1909-1917) die Kardinalswürde empfingen. Zu den schillerndsten Figuren zählt Kardinal Michael von Faulhaber (1917-1952), in dessen Amtszeit die Zeit des Nationalsozialismus fiel. Die Rolle, die er darin spielte, sorgt bis heute für Debatten. Julius Döpfner (1961-1976) wiederum setzte die Reformideen des Zweiten Vatikanischen Konzils im Erzbistum um. Sein Nachfolger Joseph Ratzinger amtierte nur wenige Jahre, da er als Präfekt der Glaubenskongregation nach Rom berufen und 2005 dann zum Papst gewählt wurde. 25 Jahre amtierte Kardinal Friedrich Wetter, auf den 2008 Reinhard Marx folgte, der von 2014 bis 2020 zudem Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz war.

Ungeachtet dessen nagen Säkularisierung und die verheerenden Missbrauchsfälle an der Substanz der Kirche. Eine Mehrheit bilden die Katholiken selbst im Erzbistum nicht mehr. Ende 2019 lebten dort 1,65 Millionen Katholiken, etwa 43 Prozent der Bevölkerung. 27 124 Menschen sind 2019 aus der Kirche ausgetreten, Tendenz steigend. Zum Priester geweiht wurden 2020 und 2019 jeweils zwei Kandidaten, 2018 waren es drei.

Sehen, hören, erleben

Das 200-jährige Bestehen der Erzdiözese München und Freising geht einher mit vielen Veranstaltungen, unter anderem mit einer Online-Ausstellung auf der Website www.erzbistum-muenchen.de/online-ausstellung-200-jahre-erzbistum. Im Laufe des Jahres sind weitere (Online-)Veranstaltungen und Gottesdienste geplant. Zum Abschluss feiert der Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx, am 26. September einen Gottesdienst im Münchner Liebfrauendom. Die digitale Ausstellung "Vom Bistum Freising zum Erzbistum München und Freising" bietet anhand von 52 Objekten Einblick in die Kirchengeschichte. Manche Dokumente sind erstmals zu sehen, etwa die Ernennungsurkunde für den ersten Erzbischof von München und Freising, Lothar Anselm von Gebsattel. Überdies sind Kunstwerke in digitaler Reproduktion zu finden, darunter das goldene Kapitelkreuz des Domdekans. Zu hören ist auch das Lied, das die Schuljugend 1821 zur Amtseinführung des ersten Erzbischofs sang, aufgenommen vom Vokalensemble der Jungen Domkantorei. Geplant ist im April eine wissenschaftliche Tagung zum Thema "200 Jahre Erzbistum München und Freising". Der Liebfrauendom, der mit der Strukturreform von 1821 zur Kathedrale erhoben wurde, soll im Mai mit einer Ausstellung in der Domkrypta gewürdigt werden. Die Podcastreihe "12 Momente aus 200 Jahren" erzählt "von Menschen, Orten und Dingen aus der Geschichte des Erzbistums" (www.mk-online.de/podcasts). hak

Die personelle Erosion wird flankiert von baulichen Problemen. Noch setzen auf dem Land kleine Kirchen und Kapellen einen Kontrapunkt zu den Verwüstungen des Fortschritts. Allein für die Erzdiözese weist die Statistik 751 Pfarrkirchen und 1140 Filial- und Nebenkirchen auf. Damit verbunden ist eine Baulast, die alljährlich 100 Millionen Euro verschlingt. Auf die Altäre rieselt Holzwurmstaub, im Gewölbe weiten sich Risse, Wände sind feucht.

Für die Trockenlegung ist oft kein Geld übrig. Filialkirchen genießen nicht die oberste Priorität. Und so bescheren gerade die kleinen Kirchen dem Besucher ein drastisches Bild dessen, was der sakralen Landschaft in Zukunft blühen wird. Die Auszehrung der alten "Bavaria Sancta" wird ihren Preis fordern, und das Ergebnis wird nicht schön sein. Andererseits: Hat das Erzbistum München und Freising in der Vergangenheit nicht zu Genüge bewiesen, dass es die Kraft besitzt, Krisen zu trotzen und beachtlich weiter zu existieren?

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SZ vom 27.02.2021/amm
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