Süddeutsche Zeitung

Erstwähler im Rathaus:Polit-Tanz

Beim Rathaus-Clubbing werben Parteien um die ersten Stimmen der 18-Jährigen

Von Sabine Buchwald

Wo ist München ein bisschen so wie Hogwarts, wo Harry Potter das Zaubern lernte? Im neuen Rathaus am Marienplatz. Für diese Antwort gibt es kein Tablet oder Smartphone. Um das zu gewinnen, muss man am Samstagabend beim Clubbing-Quiz andere Fragen beantworten. Wie der Oberbürgermeister von München heißt zum Beispiel oder was ein Wasser an der Bar an diesem Abend im Rathaus kostet.

Wer mit persönlicher Einladung zum sogenannten Rathaus-Clubbing "18jetzt" gekommen ist, der dürfte bemerkt haben, dass der Chef des Hauses Dieter Reiter heißt. Mit Bild und Unterschrift von ihm war an 18-Jährige vor Wochen die Aufforderung zu dieser Party gegangen. Sie ist das "Geburtstagsgeschenk der Landeshauptstadt München" für alle, die bis zu dieser Party volljährig geworden sind. Freier Eintritt inklusive eines Getränks, Tanzmusik von DJs gemixt, eine Live-Konzertbühne, Infostände der Parteien, eine Gaming-Zone und Gespräche mit Stadträten hatte man für die jungen Erwachsenen vorbereitet.

Die meisten von ihnen sind noch nie vorher im Rathaus gewesen, dessen neogotische Fassaden man vielleicht als Grundschüler zum letzten Mal wahrgenommen hat bei einem Ausflug zum vormittäglichen Glockenspiel. An Hogwarts dürfte dabei kaum jemand gedacht haben. Diese Impression bekommt erst, wer im Inneren des Baus unter den spitz zulaufenden Deckenbögen steht; oder die geschwungene Treppe vom Eingang am Fischbrunnen hinauf stürmt, so wie Harry und Hermine durch die Flure ihres Internats.

Das ist Fiktion, sehr real hingegen steht Dieter Reiter ohne Bart und Umhang um 21 Uhr just am Ende dieser Treppe, um jene in Empfang zu nehmen, die pünktlich gekommen waren. Ein bisschen haben sie auf dem roten Teppich auf dem Marienplatz ausharren müssen, dann noch Ausweise und Taschen kontrollieren lassen, bis es endlich nach oben in Richtung Sitzungssäle geht. Der OB grüßt mit festem Händedruck und direktem Blick in die Augen, dem auch die Schüchternsten nicht ausweichen können. Wer selbstbewusst fragt, bekommt ein Selfie mit Reiter, ansonsten fraglos jede Menge Freiheit, sich zu amüsieren.

Hier also wird entschieden, was geht in München und was nicht. Zwei Mädchen in hautenger Jeans schauen kurz in den kleinen Sitzungssaal, wo sich die jungen Vertreter der Parteien vorstellen. Warum aber sollen sie über Politik nachdenken, wenn man doch tanzen kann? Ist nicht Clubbing das Motto des Abends? Wer würde denn im Pacha oder P1 über Bezirksausschüsse (BA) nachdenken? Beate Bidjanbeg vom BA Isarvorstadt steht vor einer Tafel mit der Karte Münchens, spricht jeden an, der vor ihr auftaucht. Sie weiß aus Erfahrung, dass die wenigsten jungen Leute den BA ihres Stadtteils kennen. Sie hofft, dass manche wenigstens nun eine Ahnung davon mitnehmen.

Noch direkter gehen Esther Maffei und Isabelle Dubois auf die Partygäste zu. Die eine ist die Jugendamtsleiterin, die andere Leiterin der Koordinierungsstelle für Jugendpartizipation. "Lass es uns wissen", ist ihr Ansatz, mit dem sie Ideen für "ein jugendgerechtes München" sammeln. Die sollen anonym auf kleine Karten geschrieben und in eine Schachtel geworfen werden. Mehr Platz, weniger Regulierung, sagt Maffei, das hören sie immer wieder.

Genug Raum bietet an diesem Abend auf jeden Fall das farbig ausgeleuchtete Rathaus. Je nach Bedürfnis kann man es eng oder luftig haben. Auf Treppen oder in Nischen kann man sich zurückziehen zum Ratschen. Auf der Tanzfläche ist es so voll wie in einem angesagten Club. Und so steigt hier mit jeder Stunde die Luftfeuchtigkeit. Vor der Singer-/Songwriterbühne, organisiert von der Jungen-Leute-Seite der SZ, ist es mal mehr oder weniger voll. Jakob Muehleisen und seiner Gitarre hört man still zu, bei Seda wird artig getanzt.

Es sind nicht nur 18-Jährige da. Wer älter ist und zehn Euro Eintritt zahlt, darf auch mitfeiern. Es lohnt sich, denn ein halber Liter Wasser für 2,40 Euro oder ein Helles für 3,60 Euro bekommt man im Münchner Nachtleben sonst kaum. Am Ende des Abends, gegen drei Uhr morgens, waren alle 1500 Eintrittsbändchen verteilt. Das ist mehr als in den Jahren zuvor.

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Quelle:
SZ vom 21.10.2019
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