Süddeutsche Zeitung

Erstaufnahme:Ablenkung am Basteltisch

Im Family House in der Bayernkaserne können Kinder spielen und Deutsch lernen

Von Inga Rahmsdorf

Silbernen Glitzerstaub auf grüne Sterne zu streuen oder goldene Fäden an einen Engel zu kleben, das ist eine neue Beschäftigung für die 15-jährige Masuomeh und den siebenjährigen Ghaes. Die beiden sitzen konzentriert über einen Tisch gebeugt, der mit buntem Papier übersät ist. Nikolaus, Advent und Weihnachten? Nein, das haben sie in Afghanistan nicht gefeiert, sagt Masuomeh, die mit ihrer Familie vor einigen Monaten nach München geflohen ist. Das mindert aber keineswegs ihre Vorfreude. Und offenbar sind auch die anderen Besucher des "Family House" hier auf dem Gelände der Bayernkaserne begeisterte Bastler. Die Wände und Fenster sind übersät mit weihnachtlichen Fensterbildern.

Für Masuomeh und Ghaes ist das Basteln mehr als eine schöne Abwechslung im sonst eher eintönigen Alltag, der von Warten und Unsicherheit geprägt ist. Wie alle gut 1000 Flüchtlinge in der Bayernkaserne wissen die beiden nicht, ob und wie lange sie dort noch bleiben werden. Solange aber nicht klar ist, ob sie morgen weiterreisen müssen, können sie auch nicht in den Kindergarten oder in die Schule gehen. Das Family House der Inneren Mission auf dem Gelände der Bayernkaserne ist für sie ein Treffpunkt, an dem sie nicht nur spielen, sondern auch Deutsch lernen können und Ansprechpartner finden.

Es sei vollkommen egal, aus welchem Land sie kämen oder welcher Religion sie angehörten, sagt Maryam Tadoudar, "alle freuen sich auf den Weihnachtsbaum, den wir hier aufstellen werden, und auf die Nikolausfeier, zu der alle Familien eingeladen sind". Die Leiterin des Familienzentrums kümmert sich seit zehn Jahren um die Kinder, Jugendlichen und ihre Eltern, die in die Erstaufnahmeeinrichtung kommen. Seit einem halben Jahr hat sie dafür auch eigene Räume, eine Containeranlage, die auf dem Gelände der Kaserne steht.

Wenn Tadoudar morgens am Family House ankommt, dann steht meist schon eine Gruppe Kinder und Jugendlicher ungeduldig vor der Eingangstür. Manchmal sind es 20 Besucher, manchmal auch 70. Planbar ist hier nichts. Ein Mädchen aus Serbien läuft auf Tadoudar zu und umarmt sie. "Die Kinder wachsen einem schon sehr ans Herz", sagt die Leiterin. Doch dann sind die Kinder und Jugendlichen, die Wochen oder Monate lang gekommen sind, plötzlich nicht mehr da, weil sie in eine andere Unterkunft verlegt oder abgeschoben wurden. Tadoudar hat bereits einen Sack voller Abschiedsbriefe gesammelt.

Nebenan im Kuschelraum, der mit Teppichen, Decken und Kissen ausgelegt ist, spielen zwei Jungen mit einem Puppenwagen. Aus dem nächsten Raum dringt Musik. Zehn Kinder und zwei Frauen stehen im Kreis, stampfen, klatschen und singen. Sabine Krause-Holzer und Tamara Demberger führen hier ein Pilotprojekt durch, das sich "Kikus zum Ankommen" nennt. Die Idee dahinter ist, mit Hilfe von Rhythmus und Musik die Kinder positiv an die Sprache heranzuführen. Angefangen hatte der Münchner Verein "Zentrum für kindliche Mehrsprachigkeit" mit dem Kikus-Programm, um Kinder im Vor- und Grundschulalter zu fördern und mehr Chancengleichheit zu erreichen. Nun haben sie ihr Programm erweitert, und eine Stunde in der Woche kommen Krause-Holzer und Demberger in das Family House. In dem Kurs müssen sie sowohl die Kinder integrieren, die erst gestern angekommen sind, wie auch solche, die schon seit einigen Monaten in Deutschland sind.

"P-P-P-Popo, T-T-T-trampeln", singen die Frauen zusammen mit den Kindern, klatschen sich dabei auf den Po oder trampeln mit den Füßen. Das Projekt sei noch in der Entwicklung, sagt Krause-Holzer. Derzeit werde es von einem Sponsor finanziert. Sie hoffen aber, dass das Projekt verlängert wird und sie mit den Erfahrungen, die sie sammeln, auch als Multiplikatoren weiter Interessierte schulen können. Wer sich als Flüchtlingshelfer engagiere, der könne bei Kikus bereits vergünstigt Kurse belegen, um zu lernen, wie man Flüchtlingskinder besser beim Deutschlernen unterstützen kann. "Auf Wiedersehen" singen sie, und die Kinder wiederholen die Wörter und winken.

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Quelle:
SZ vom 23.11.2015
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