Erotik-Shop im Tal:"Um Himmels Willen, wie kannst du nur?"

Erotik-Shop im Tal: Mitte Mai wird Münchens ältester Sex-Shop schließen. "Ich bin jetzt einfach im Rentenalter", sagt Charlotte Binder.

Mitte Mai wird Münchens ältester Sex-Shop schließen. "Ich bin jetzt einfach im Rentenalter", sagt Charlotte Binder.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Das sagten Freunde vor 30 Jahren, als Charlotte Binder Münchens ältesten Erotik-Shop in einer Passage im Tal übernahm. Nun geht sie in Rente - und wird ihre Kunden vermissen.

Von Philipp Crone

Charlotte Binder weiß, wie man eine künstliche Vagina verkauft. Die zierliche Frau mit dem weißblau gestreiften Hemd, auf dem eine Mickey Mouse aufgedruckt ist, und den augengroßen Ohrringen weiß aber auch, dass kein Produkt in ihrem Geschäft mehr Beratung braucht. Kein Kondom, kein Gleitgel, kein Vibrator, kein Dildo, kein Film.

Binder führt seit mehr als 30 Jahren Münchens ältesten Erotik-Shop. Sie hat Lustiges und Tragisches und Herzliches erlebt, sie hat Hunderte Stammkunden, und trotzdem gibt es auch für sie noch immer heikle Momente. Wenn jemand bei ihr eine künstliche Vagina kauft, die früher Seemannsbraut hieß und heute Flashlight, dann ist allein schon das Betrachten der verschiedenen Modelle für die meisten Kunden unglaublich schwer. "Sie zeigen einem damit ja sofort, dass sie alleine und einsam sind", sagt Binder an einem Vormittag im April.

Sie sind unsicher, und dann steht da die 65 Jahre alte Frau und muss sie davor bewahren, ein zu kleines Modell zu kaufen oder ein zu großes. Man kann sagen: Es gibt wohl kaum anspruchsvollere Aufgaben für einen Verkäufer als mit einem Kunden innerhalb weniger Sekunden über die Größe seines Penis zu sprechen. Wobei das so nicht ganz stimmt. Meistens spricht nur Binder, ihre Kunden, wenn es keine Stammkunden sind, hören eher zu. "Das ist viel einfacher für denjenigen. Ich erzähle einfach: über das Material und die verschiedenen Eigenschaften und irgendwann fließt beiläufig die Größe ein."

Binder schaut oft nach oben, wenn sie spricht. Als ob sie nachdenken würde. Oder vielleicht auch dem Gegenüber ihren Blick ersparen möchte, wenn er schon die Stimme mit den intimen Inhalten hört. Die Stimme sagt dann zum Beispiel. "Wenn eine Seemannsbraut zu eng ist, überwiegt das Gefühl der Enge und stört das Gefühl der Lust." Und wenn ein Kunde dann bei ihr eingekauft hat, nach der berieselnden Beratung, "kommen die Leute oft wieder in meinen Laden nach einiger Zeit und bedanken sich". Dieser Satz ist wichtig, wenn man verstehen will, warum eine Zahnarzthelferin mit Mitte 30 vor drei Jahrzehnten auf einmal ihrem Mann und ihrem Freundeskreis sagte: Ich übernehme jetzt diesen Sex-Laden.

Sie hat so viele Dinge erlebt, so viel gelernt, über die intimsten Gedanken von Menschen aus München bis nach Dubai, dass sie nun, an einem Vormittag im April, bei dem Gedanken daran, dass sie am 15. Mai ihren Laden schließt, kurz aufhört zu reden und gegen die aufsteigenden Tränen ankämpft. "Ich bin jetzt einfach im Rentenalter", sagt sie. Dann macht Binder eine Zeitreise durch die Lust der vergangenen 30 Jahre, die sich auf der einen Seite stark verändert hat - und auf der anderen Seite wiederum gar nicht.

Am Anfang war das Geld. "Der Laden war deutlich lukrativer als mein Verdienst als Zahnarzthelferin." Doch es wurde ein schwieriger Start, Binder hatte es zunächst mit verschüchterten Kunden zu tun, die einen Mann hinter dem Tresen gewohnt waren inmitten der Pornohefte und Filme mit nackten Frauen und erigierten Penissen auf dem Cover. "Am Anfang haben mir Kunden erzählt, die Liebeskugeln gekauft hatten, dass die bei ihren Frauen beim Treppensteigen immer geklackt haben. Da bin ich knallrot geworden." Das änderte sich schnell.

Binders Mann, "der ist ruhig, ich bin hibbelig", sagt sie mit ihrer leicht mickey-mouse-hohen Stimme und zieht an ihrer Menthol-Zigarette, der fand nichts dabei, dass seine Frau nun einen Sex-Shop führte, die Tochter hat das nie gestört, und Binders Vater sagte nur: "Das ist jetzt halt die moderne Zeit." Und wenn man die Begeisterung dieser Frau für diesen Job sieht, wundert das auch nicht. "Am Anfang haben manche im Freundeskreis gesagt: Um Himmels Willen, wie kannst du nur? Aber die hatten eine seltsame Vorstellung davon, was hinter dem Vorhang passiert."

Ein Produkt für jede Zielgruppe

Hinter dem roten Samtvorhang, durch den man das Geschäft in der schmalen Passage betritt. Da läuft dudelig harmlose Musik. Und auf Regalen sind die Produkte der Branche drapiert. Am hinteren Ende des Raumes ist eine Tür, die zu den beiden Kinosälen führt. Für 9,50 Euro Eintritt kann man den ganzen Tag Pornos anschauen. An diesem Aprilvormittag sitzt ein älterer Mann in einem der Kinos, "Stammkunde", ein Mann Mitte 40 gesellt sich dazu, ein Mann im Rentenalter steht vor dem DVD-Regal.

Aus dem Freundeskreis fragte bald keiner mehr, wie Binder denn so etwas nur machen könne, da hieß die Frage eher: Kann ich nach Ladenschluss mal vorbeikommen? Die ersten 15 Jahre kamen nur Männer, heute ist die Verteilung der Kunden "ein Viertel Paare, ein Viertel Frauen und die Hälfte Männer". Am häufigsten kommen Männer, die Vibratoren für ihre Frauen kaufen. Binder packt eine Packung aus, "ich hatte hundert verschiedene", die Regale sind zum Teil jetzt schon leer.

Der "Womanizer" sei das Top-Produkt, für 90 Euro, die Version mit Strasssteinchen für 230 Euro. Binder sagt: "Das ist der Wahnsinn." Dann schaut sie hoch an die Decke. Der Wahnsinn stimuliert die Klitoris mit Luftdruck. Das sei heute etwas ganz anderes als am Anfang, als es nur weiße Vibratoren aus Plastik gab. "Das ist mittlerweile ein fantastisches Material, flexibel, dehnfähig." Die Sexspielzeuge hätten sich unglaublich weiterentwickelt, heute müsse auch niemand mehr eine Batterie wechseln, alles geht mit USB.

Und es gibt heute einen Vibrator für jede Gelegenheit. Ovo S1 zum Beispiel, ein Gerät zum Auflegen und nicht zum Einführen, für 45 Euro, nur so groß wie eine kleine Computermaus und schön anzusehen in schwarz und metallic. "Den wollen die Kundinnen, weil er in die Handtasche passt." Frauen hätten heute mehrere Modelle. "Und ich sage: Jedes Spielzeug ist gut für eine Beziehung." Viele Paare würden nach 30 Jahren Partnerschaft einfach gerne mal zusammen spielen, etwas ausprobieren.

Auf der Packung des Handtaschenvibrators steht "Lifestyle Toys", auf der des neuen Womanizers "Your New Comer". Die Branche ist heute ein fester Bestandteil der Gesellschaft, aber schlechte Witze gibt es noch immer, und nicht nur in Filmtiteln hier im Geschäft, wobei Binder von manchen Filmen geradezu schwärmt: "wunderbar, hochwertig, sehr schöne und ästhetische Darsteller und gute Storys". Darunter versteht Binder, dass es in so einem Zweistundenfilm nicht nach zwei Minuten gleich zur Sache geht. "Erst einmal etwas Schmusi-Time und Angrabschen, es muss immer noch eine Art Spannung entstehen." 15 Minuten bis zur ersten Aktion dürfen da schon vergehen.

Der Sexfilm von früher sei ohnehin ein ganz anderer als der von heute. "Mittlerweile sind sehr viele Protagonisten dabei, nicht mehr nur ein Pärchen wie damals." Sie hat alles, zeigt im Kino auch einmal pro Woche einen lesbischen Film, einmal einen Gay-Film, "die Leute wollen etwas Ausgefallenes". Nur japanische Pornos führt sie nicht, "die sind so brutal, da sind oft Schläge zu sehen, ich fürchte, oft auch echte, das geht nicht."

Das Geschäft wird der Rentnerin "schrecklich fehlen"

Ihre erste Frage an einen Kunden vor dem Filmregal lautet meistens: Wollen Sie den Film zusammen sehen oder alleine? Und lieber Story oder Power? Wer Charlotte Binder solche Fragen beantwortet und dann vielleicht auch fragt, welches Spielzeug für die eigene Frau oder den Mann geeignet sein könnte, der hat eine Verbindung zu der Verkäuferin aufgebaut, vielleicht wie zu einem Barmann in der Stammkneipe. Barfrau Binder sagt dann zum Beispiel: "Nimm halt mal eine Gleitcreme, bevor du immer in der Wüste Gobi herumwanderst."

Das Internet war bei Binder im Tal kein großes Problem, sagt sie. Pornos umsonst schauen zu können und sich anonym Sex-Spielzeug bestellen, hat keinen Einfluss gehabt? "Ein Jahr lang. Dann haben die Leute gemerkt, dass man Dildos nicht zurückschicken kann und man im Internet mit Werbung zugemüllt wird." Für viele seien Pornos Entspannung, das gehe nicht im Netz. Auch den Einsamen, die sich in ihr Kino setzen und mit ihr ratschen, hilft das Internet nicht weiter. Und die Zukunft der Branche?

Erotik-Shop im Tal: Die Zeiten ändern sich: Die ersten 15 Jahre kamen nur Männer in den Sex-Shop von Charlotte Binder.

Die Zeiten ändern sich: Die ersten 15 Jahre kamen nur Männer in den Sex-Shop von Charlotte Binder.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Binder zeigt eine Packung mit einem sogenannten We-Vibe. "Das ist ein Paar-Vibrator, der beide beim Sex stimulieren kann." Vor allem aber kann man den auch über eine App steuern. "Bei den zunehmenden Fernbeziehungen kann der eine in Rosenheim den anderen in Hamburg stimulieren." Solche Accessoires wird es in Zukunft immer mehr geben, sagt Binder.

Binder raucht, es liegt leichter Mentholdunst in der Luft, Musik dudelt, ein Mann Ende 40 kommt rein, Binder ruft. "Griasdi!" Sie weiß oft alles über diese Menschen, ihre Geldsorgen, ihren Stress mit dem Chef und wie es im Bett läuft sowieso. Wenn im Sommer die Touristen kommen, weiß sie auch, wie das abläuft. Kunden aus Dubai geben im Hotel die Tasche ab, kommen rüber und "kaufen die günstigsten künstlichen Vaginas, die gehen von 35 bis 300 Euro". Früher seien auch viele Pfarrer gekommen, sagt Binder ein bisschen leiser als sie zuvor gesprochen hat.

Wer über Penisse und Vaginas spricht, hat keine Zeit für großes Drumherumreden. Der muss auf den Punkt kommen. "Zu 99 Prozent gebe ich einen Kommentar ab", sagt Binder, vor allem, wenn es Leute sind, die zu ihrem "harten Kern" gehören.

Binder sagt, dass ihr das Geschäft "ganz schrecklich fehlen" werde. Wohl nicht unbedingt die Gleitcreme-Beratung. Dieser Frau, die Produkte verkauft hat, die Menschen zueinander bringen sollen oder ihnen zumindest das Gefühl geben sollen, dieser Frau wird vor allem das Gefühl fehlen, ein wenig wahre Nähe in all der künstlichen um sie herum herzustellen.

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