Süddeutsche Zeitung

Ernährung:Wenn das Essen in München nur drei Tage reicht

Lesezeit: 4 Min.

In einer Großstadt scheint es Lebensmittel in Hülle und Fülle zu geben. Doch die Versorgung ist störanfälliger, als viele meinen.

Von Franz Kotteder

Hat da wer ein Problem? Auf den ersten Blick wohl nicht. Man muss ja nur einen x-beliebigen Supermarkt betreten, und das vielleicht nicht gerade eine Viertelstunde vor Ladenschluss am Tag vor einem Wochenende mit anschließendem Feiertag. Dort sind die Regale voll mit lauter Dingen, mit denen man sich mehr als ausreichend ernähren kann. Das Ernährungsproblem, so scheint es zu sein, besteht vor allem in der Qual der Wahl. Und dafür braucht es nun also einen Ernährungsrat in München?

Nein, dafür nicht. Wenn sich in gut zwei Wochen, am 18. Juni, der Münchner Ernährungsrat offiziell konstituiert, dann geht es zwar auch um die Frage, was man am besten essen soll. Aber auf einer viel grundsätzlicheren Ebene. Die 70 bis 80 Vereine, Gruppen, Initiativen, Hersteller und öffentlichen Einrichtungen, die sich dann zusammentun, wollen die Lebensmittelversorgung der Stadt auf eine neue Grundlage stellen. "Es geht letztlich darum", sagt Agnes Streber, "Ernährungssouveränität zu erlangen."

Sie leitet hauptamtlich das Münchner "Ernährungsinstitut KinderLeicht" und ist derzeit als Koordinatorin für den neuen Ernährungsrat tätig, hat zuvor für das Bundesumweltministerium das Projekt "Ernährungswende" in München begleitet. Ernährungsräte gibt es bereits in Berlin, Köln, Hamburg und Frankfurt - und neuerdings sogar in Fürstenfeldbruck. Die Brucker haben die Münchner überholt und ihren Rat im Februar gegründet, als erster Landkreis in ganz Deutschland übrigens.

Ernährungssouveränität, das ist ein großes Wort. Letztlich geht es darum, die Versorgung einer Stadt mit Lebensmitteln sicherzustellen. Und obendrein nach Möglichkeit mit solchen, die ihr Geld auch wert sind. Denn die übervollen Supermarktregale täuschen: Die Nahrungsmittelversorgung einer Großstadt ist viel störanfälliger, als man gemeinhin glauben würde. München kann sich derzeit zum Beispiel nur zu zwei Prozent selbst mit Lebensmitteln versorgen, wie das Freiburger Öko-Institut in einer Studie ermittelt hat.

Der Autor Wilfried Bommert hat mit seinem Berliner Institut für Welternährung herausgefunden, "dass die Lebensmittelvorräte in den großen Städten gerade mal für drei Tage reichen". Ein Großteil der Nahrungsmittel stamme aus nationaler oder internationaler Produktion, sei standardisiert, weitgehend vorgefertigt und werde "just in time" angeliefert - obwohl es oft genug Hersteller in der Region gebe, die das Gleiche liefern könnten. Schon in naher Zukunft, so Bommert bei einer der Auftaktveranstaltungen für den Münchner Ernährungsrat, könne das bereits bei kleineren Krisen zu erheblichen Problemen führen.

Umso wichtiger sei es, dass gerade die großen Städte einen Plan für die Ernährung ihrer Einwohner haben. Der fortschreitende Klimawandel, der Verlust an fruchtbaren Böden auf der ganzen Welt, der sich abzeichnende Wassernotstand und nicht zuletzt der Artenschwund bei den Nutzpflanzen sowie die Finanzspekulationen mit Nahrungsmitteln stellten große Risiken dar.

So gesehen, sagt Agnes Streber, sei es unerlässlich, "nachhaltige Lebensmittelerzeugung in der Region voranzutreiben". Oder um es mal pathetisch zu formulieren: Ernährungsräte sind der lokale Wurmfortsatz einer globalen Überlebensstrategie für die Menschheit. In München und seinem Speckgürtel drumherum seien die Voraussetzungen dafür eigentlich besonders gut, sagt Streber. "Hier gibt es viel Landwirtschaft, und das Bewusstsein in der Bevölkerung für die Bedeutung dieser Thematik ist sehr groß." Es gebe bereits zahlreiche lokale Initiativen. Auch Bommert sagt: "In München ist am meisten los, was die Aktivitäten in der Zivilgesellschaft angeht." Streber sieht als eine der ersten Aufgaben der neu zu gründenden Vereinigung die Bestandsaufnahme: "Wir wollen uns erst einmal anschauen, wie die Stadt mit Nahrungsmitteln genau versorgt wird. Erst danach kann man sagen, was man verbessern kann."

Tatsächlich ist das Interesse groß daran, die Grundlagen der Ernährung in der Stadt zu überdenken. Das wurde schon bei verschiedenen Auftaktveranstaltungen und Workshops zum Münchner Ernährungsrat deutlich. Fragen der Nachhaltigkeit und der alternativen Landwirtschaft rechnet man normalerweise eher den Grünen zu. Es zeigte sich aber: Das Spektrum der gesellschaftlichen Gruppen, die sich für einen Ernährungsrat interessieren, reicht weit über die üblichen Verdächtigen der Öko-Gemeinde hinaus. Der harte Kern, der auf den Ernährungsrat hingearbeitet hat, besteht aus gut 20 Gruppierungen, interessiert sind aber weitaus mehr.

Die Münchner Slowfood-Ortsgruppe ist ebenso vertreten wie das "Kartoffelkombinat", ein Verein, der in Eigenregie Gemüse anbaut und heute bereits 1600 Haushalte versorgt. Die "Genussgemeinschaft Städter und Bauern", ist dabei, der Biobauern-Verband Naturland, und auch die Schauspielerin Uschi Glas kam zu einem Treffen. Glas hat den Verein "brotZeit" ins Leben gerufen, der Schulkinder aus Problemfamilien mit einem Frühstück in der Schule versorgt. Die Schauspielerin sagt auch: "Wenn jeder nur auf die Stadt wartet, passiert ja nix!"

Der Erfolg des künftigen Ernährungsrats wird ganz entscheidend davon abhängen, wie groß sein Einfluss auf die Kommunalpolitik sein kann. Die Stadtverwaltung hat bereits ihre Mitarbeit im Gremium zugesagt. Stephanie Jacobs, Referentin für Gesundheit und Umwelt, hat die Initiative "grundsätzlich begrüßt": "Gerade bei eineinem so persönlichen Thema wie Ernährung ist es wichtig, dass wir Leute haben, die ihr Wissen in die Stadtgesellschaft miteinbringen und anderen die Bedeutung eines gesunden Ernährungsstils bewusst machen." Wie der Ernährungsrat in der Praxis mitwirken könne, das müsse aber "noch diskutiert und besprochen werden".

Bislang haben die Parteien im Rathaus das Thema nicht groß beachtet - wohl deshalb, weil es dort noch immer als grünes Thema gilt. Die Grünen-Fraktion hat in Gestalt von Stadträtin Katrin Habenschaden auch als erste beantragt, einen Ernährungsrat städtisch zu unterstützen. "Es kommt ja immer darauf an", sagt sie, "wie so ein Rat ausgestattet ist und wie er von der Politik unterstützt wird." Wichtig sei eine Beteiligung quer durch alle gesellschaftlichen Gruppierungen: "Es geht auch nicht ohne Verwaltung, Politik und Produzenten." Trotzdem müsse der Rat eigenständig bleiben, er dürfe nicht von Interessengruppen vereinnahmt werden.

Das sehen die wichtigsten Protagonisten ähnlich. Deshalb, heißt es, habe die Vorarbeit auch sehr viel Zeit gekostet - immerhin werkelt man schon seit eineinhalb Jahren auf die Gründung hin. Am 18. Juni, 17 Uhr, ist es nun soweit. Dann trifft man sich in der Niederlassung der gemeinnützigen GLS-Bank in der Bruderstraße 5 a (Interessierte sind willkommen, müssen sich aber unter ernaehrungswende@institut-fuer-welternaehrung.org anmelden).

Um die rechtlichen Fragen hat sich Jürgen Müller vom Kartoffelkombinat gekümmert. Der Mann hat einen schön trockenen Humor: "Ich will's mal nicht als schlechtes Omen werten, dass ich im Hauptberuf Insolvenzverwalter bin." Dann gibt es da auch noch Agnes Streber. Sie ist nicht nur studierte Ökotrophologin, sondern auch Familientherapeutin, was vielleicht bei der Gruppendynamik im Verein hilft. Und falls alle Stricke reißen: Die Frau hat auch noch eine Zusatzausbildung im "therapeutischen Zaubern". Wer weiß, wie man's in einem Ernährungsrat brauchen kann.

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SZ vom 02.06.2018
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