Süddeutsche Zeitung

Erinnerungskultur:Kammerspiele recherchieren Schicksale ihrer in der NS-Zeit verfolgten Mitarbeiter

Der Terror hatte auch das Münchner Theater erfasst - die Dimension kommt bei der Recherche nach und nach ans Licht. Etliche Schauspieler und andere Mitarbeiter waren unter den Opfern. Ihrer wird nun unter anderem mit einer Tafel am Eingang gedacht.

Von Oliver Hochkeppel, München

Eine Liste mit 28 Namen hängt seit vergangener Woche in einem Schaukasten der Münchner Kammerspiele, gegenüber vom Spielplan. Einige der Namen dürften manchem bekannt sein, etwa die Autoren Egon Friedell oder Walter Hasenclever, andere nur absoluten Spezialisten etwas sagen, wie die Schauspielerin Eva Kessler oder der Theaterleiter Siegfried Geyer. Alle aber waren sie zwischen 1911 und 1943 Mitarbeiter der Kammerspiele und alle eint sie ein Schicksal: Entweder wurden sie direkt von den Nationalsozialisten ermordet oder ihre Entrechtung, Verfolgung und Verfemung endete in einer Flucht in den Tod. Ihre Namen finden sich nun direkt neben den Erinnerungszeichen für fünf dieser Ermordeten, die bereits 2020 dort angebracht wurden. Beides Ausdruck einer späten, aber bis in die künstlerische Arbeit hinein wichtigen neuen Erinnerungskultur, die vom Haus selbst ausgeht.

Martin Valdés-Stauber ist dabei die Schlüsselfigur. 2017 trat er seine Stelle als Dramaturg bei den Münchner Kammerspielen an. Schon bald danach begann der Kaufbeurer, der unter anderem in Berkeley und Cambridge Soziologie und Wirtschaftswissenschaften studiert hat, sich - erst von Matthias Lilienthal, jetzt von der neuen Intendantin Barbara Mundel unterstützt - mit der dunklen Vergangenheit der Institution zu beschäftigen, für die er arbeitet. 2018 startete er das Langzeitprojekt "Schicksale", aus dem inzwischen ein von ihm geleitetes "Künstlerisches Forschungsfeld" der Kammerspiele unter dem Titel "Erinnerung als Arbeit an der Gegenwart" hervorgegangen ist. Seine wichtigsten Mitstreiter fand er allerdings außerhalb des Hauses: Janne und Klaus Weinzierl, beide pensionierte Englischlehrer, die sich seit langem für die "Stolpersteine"-Aktion engagieren und so zu Fachleuten für nationalsozialistische Verfolgung geworden sind.

Ein Zufallsfund führte sie zur Forschung über die Kammerspiele. "Als wir im November 2018 einige Stolpersteine verlegt haben, war darunter auch ein anonym gespendeter für Benno Bing in der Keuslinstraße 4. Klaus hat dann seine Geschichte recherchiert und herausgefunden, dass er nach Abitur am Maximiliansgymnasium und Jurastudium der erste kaufmännische Direktor der Kammerspiele war, von 1913 bis zum Umzug des Theaters 1926 von der Augusten- in die Maximilianstraße. So kamen wir mit Martin Valdés-Stauber in Kontakt", berichtet Janne Weinzierl. Bei Bing war ihr Mann in französischen Archiven fündig geworden, denn er war 1933 nach Frankreich geflohen, wo er 1942 als "juif étranger" verhaftet, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde. Jetzt gingen die beiden im Stadtarchiv und im Hauptstaatsarchiv auf die Suche und nahmen Kontakt zu Spezialisten auf wie dem erfahrenen Hamburger Rechercheur Johannes Grossmann, zum Institut für Zeitgeschichte oder der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung, Zukunft". Obwohl viele wichtige Unterlagen der Kammerspiele im Krieg verloren gegangen waren, erwies sich auch hier: Wer suchet, der findet.

Nach und nach kam so die ganze Dimension des auch die Kammerspiele erfassenden Terrors ans Licht. Natürlich richtete sich die Verfolgung in erster Linie gegen jüdische Mitarbeiter. Die "Hauptstadt der Bewegung" ging auch hier unrühmlich voran und entließ solche sofort nach der Machtübernahme größtenteils noch ohne rechtliche Grundlage. Das betraf zum Beispiel Adolf Kaufmann, Aufsichtsratsvorsitzender der Münchner Theatergesellschaft, Mitgründer der Kammerspiele, zweiter Direktor neben Benno Bing und auch einer der Anwälte des Theaters. Er musste sofort nach Wien fliehen, wo er im November 1933 im Spital der Israelitischen Cultusgemeinde starb. Auch die Gesellschafterin Flora Fromm, die "Grande Dame" der vier jüdischen Familien, die als Kunst- und Theatermäzene mit der Münchner Theater GmbH die finanzielle Basis geschaffen hatten, wurde 1933 sofort entrechtet. Während ihre Familie 1939 noch auswanderte, entschied sich die 80-Jährige, in München zu bleiben. Sie kam 1942 nach Theresienstadt und wurde dort ermordet.

Auch etliche Schauspieler waren unter den Opfern. Die Österreicher Hans Tintner, Julius Seger und Paul Morgan zum Beispiel. Der eine wurde nach dem Pariser Exil, der andere nach Berufsverbot und der Zwischenstation Theresienstadt in Auschwitz umgebracht, der dritte nach dem "Anschluss" Österreichs in Buchenwald ermordet. In Auschwitz starb auch ihre Münchner Kollegin Hedda Berger, nachdem sie 1943 in ihrem Wiener Versteck von der Gestapo aufgespürt worden war. Unfassbar bitter sind die Schicksale von Emmy Rowohlt und Eva Kessler, die beide - die eine nach einer Denunziation wegen regimekritischer Äußerungen, die andere einfach wegen ihrer Krankengeschichte - Ende 1944 im "Hungerhaus" der Pflegeanstalt Eglfing-Haar an systematischem Nahrungsentzug starben. Eine besonders düstere Volte der Geschichte ereilte schließlich Marija Leiko und Carola Neher. Sie hatten sich den Nazis zunächst scheinbar erfolgreich durch die Flucht in den Osten entzogen. Doch die in ihre Heimatstadt Riga entkommene Leiko wurde 1938 in Moskau wegen einer angeblichen Mitgliedschaft in einer faschistischen lettischen Organisation erschossen, Neher dort schon 1936 als verdächtige Politemigrantin verhaftet und in ein Arbeitslager eingewiesen, das sie nicht überlebte.

Nahezu umfassend konnten die Weinzierls den Aderlass bei den Kammerspiele-Autoren aufdecken. Von 1911 bis 1933 wurden Stücke von mehr als 50 zeitgenössischen Dramatikern und Übersetzern aufgeführt, die 1933 fast alle sofort von den Nazis geächtet und verfolgt wurden. Elf fanden dabei den Tod: Paul Kornfeld starb 1942 im Ghetto Lodz, Georg Hermann, Ludwig Hirschfeld und August L. Mayer - ein renommierter Kunsthistoriker, der das zwei Mal von Otto Falckenberg inszenierte spanische Stück "Don Gil von den grünen Hosen" entdeckt und übersetzt hatte - wurden zwischen 1942 und 1944 in Auschwitz ermordet. Siegfried Geyer wurde 1945 auf der Flucht an der ungarisch-slowakischen Grenze erschossen. Die erst in die USA emigrierte, dann nach Frankreich zurückgekehrte Autorin Christa Winsloe wurde 1944 bei Cluny als Spionin hingerichtet. Fünf weitere Autoren, Arthur Landsberger, Max Alsberg, Egon Friedell, Ludwig Fulda und Walter Hasenclever, nahmen sich zwischen 1933 und 1940 aus Verzweiflung das Leben.

Das Erinnerungsprojekt läuft weiter, zum Beispiel mit Podcasts

Der letzte der von Kaus Weinzierl handgeschriebenen Namen auf der Tafel gehört dem ebenfalls durch Suizid gestorbenen Stephan Salmon Fuld. Er steht stellvertretend für die sieben allesamt jüdischen Theaterärzte der Kammerspiele bis 1933, die Berufsverbot bekamen, emigrierten oder unter ungeklärten Umständen umkamen.

Alles aufgearbeitet ist mit diesen 28 Namen noch lange nicht. Das Projekt läuft weiter, zum Beispiel mit wöchentlichen Podcasts, zu denen man über die Homepage, aber auch über den QR-Code auf der Tafel gelangt. Manche Berufsfelder der Kammerspiele-Mitarbeiter wie die Technik sind wegen der dürftigen Quellenlage noch nicht ausreichend erkundet. Auch die Rolle von Otto Falckenberg, künstlerischer Leiter der Kammerspiele von 1917 bis 1944, harrt einer genaueren Untersuchung. "Und wir kennen inzwischen etwa 200 Fälle von Verfolgung und Flucht, die nicht mit dem Tod endeten", sagt Martin Valdés-Stauber.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5568046
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/lyn/blö
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.