Erinnerungskultur:Tanzen, was das Zeug hält

Erinnerungskultur: Geschichte mit dem eigenen Körper darstellen, das haben die elf Jugendlichen in ihrer Performance "Um 2 Uhr nochmal Kaffee" mit großer Begeisterung geschafft.

Geschichte mit dem eigenen Körper darstellen, das haben die elf Jugendlichen in ihrer Performance "Um 2 Uhr nochmal Kaffee" mit großer Begeisterung geschafft.

(Foto: Sebastian Korp)

In dem Langzeitprojekt "Always remember. Never forget" erobern Münchner Jugendliche sich erinnernd ihre Stadt. Tanzpädagoge Alexander Wenzlik und sein Team haben es zusammen mit dem NS-Dokuzentrum ins Leben gerufen. Jetzt wurden sie dafür in Dubai mit dem Intercultural Innovation Award ausgezeichnet.

Von Martina Scherf

Sie sind das Gelände abgelaufen, Schritt für Schritt. Sie haben die Umrisse der Baracke auf dem Boden abgeklebt. "Ernst", "Werner", "Ruth", schrieben sie ins Gras, dort, wo die Pritschen der Kinder standen. Sie haben ihre Arme ausgebreitet, sich aneinandergereiht, mit den eigenen Körpern ermessen: Wie groß war das Lager damals überhaupt? Elf Jugendliche begaben sich im Frühjahr 2021 auf Spurensuche in München-Milbertshofen. An einem Ort, wo 80 Jahre zuvor jüdische Kinder und ihre Familien inhaftiert waren, bevor die meisten von ihnen in Konzentrationslagern getötet wurden. Heute gehört das Gelände BMW. Kein Stein steht mehr von dem Lager. Die Erinnerung aber, die soll nicht verblassen.

Wie bringt man einen Ort, der nicht mehr existiert, eine Geschichte, die nur noch ganz wenige Menschen aus eigener Erinnerung erzählen können, auf die Bühne? Und warum ausgerechnet als Tanz? "Weil der Tanz einen emotionalen Zugang bietet", sagt Alexander Wenzlik, "weil er uns die Möglichkeit gibt, das Verhältnis von Individuum und Masse, das Sich-Dagegen-Stellen, das Mitläufertum, die Verzweiflung und die Angst körperlich erfahrbar zu machen."

Erinnerungskultur: Alexander Wenzlik leitet den Verein "Spielen in der Stadt" in München. Seit fünf Jahren betreut er das Langzeitprojekt "Always remember, never forget". 2021 erhielten sie den Intercultural Innovation Award, verliehen in Dubai, ausgewählt unter 1100 Bewerbern aus aller Welt.

Alexander Wenzlik leitet den Verein "Spielen in der Stadt" in München. Seit fünf Jahren betreut er das Langzeitprojekt "Always remember, never forget". 2021 erhielten sie den Intercultural Innovation Award, verliehen in Dubai, ausgewählt unter 1100 Bewerbern aus aller Welt.

(Foto: Sebastian Korp)

Wenzlik, 46, ist Tanzpädagoge und leitet seit 2003 den Münchner Verein "Spielen in der Stadt". Seit fünf Jahren arbeitet er zusammen mit der Tänzerin und Choreografin Dorothee Janssen, die das Projekt künstlerisch leitet, dem Regisseur und Filmemacher Julian Monatzeder, dem Historiker Thomas Rink vom NS-Dokumentationszentrum und Münchner Schülerinnen und Schülern an einer lebendigen Erinnerungskultur.

"Always remember. Never forget" lautet der Titel dieses Langzeit-Projekts, das schon mehrere nationale Preise gewonnen hat. In diesem Jahr durfte Wenzlik stellvertretend für das Team eine besondere Auszeichnung entgegen nehmen: In Dubai erhielten sie den Intercultural Innovation Award, verliehen von den Vereinten Nationen zusammen mit BMW. Dotiert mit 20 000 Euro. Ausgewählt wurden sie unter 1100 Einsendungen aus 120 Ländern. "Das ist eine Riesenehre für uns", sagt Wenzlik. Und es ist eine großartige Würdigung dieser Arbeit, die in der eigenen Stadt selten im Rampenlicht steht. Dabei sind es doch gerade solche Projekte, die Begeisterung für Kultur und politisches Bewusstsein wecken können, in einem Alter, in dem sich Werte neu sortieren.

"Demokratie ist nicht selbstverständlich, das sieht man ja jetzt wieder an vielen Orten. Demokratie macht Arbeit", sagt Wenzlik an einem Dienstag im Dezember im Foyer des neuen Schwere-Reiter-Theaters. Dort hatte ihre Performance "Um 2 Uhr nochmal Kaffee" im Sommer Premiere. Jetzt führen sie das Stück noch einmal auf.

Und da spielen die elf Darstellerinnen und Darsteller im Alter zwischen 14 und 17 Jahren noch einmal, als wären sie erst gestern durch das Milbertshofener Lager gegangen. Stellen Szenen nach, von Gewalt und Hoffnung, von schützender Gemeinschaft und brutaler Enttäuschung. Sie winden sich vor Schmerz und Trauer, sie strecken ihre Körper aus Sehnsucht nach Freiheit, sie tragen Koffer, während ein Mädchen im Stakkato die Anordnungen der SS durchs Megafon brüllt: "Mitzunehmen sind nur Gegenstände des persönlichen Bedarfs, zwei Koffer, oder ein Koffer und ein Rucksack, ein Anzug, eine Decke, Kochgeschirr, nur Löffel, kein Messer, keine Gabel ..."

In der ersten Reihe sitzt Ernst Grube, 89, einer der letzten Zeitzeugen des Holocaust. Er war damals neun Jahre alt, als er ins Lager nach Milbertshofen kam. Seine Pritsche stand dort, wo die Jugendlichen im Jahr 2021 "Ernst" auf den Boden schrieben. Werner und Ruth waren seine Geschwister. Am 20. November 1941 wurden die ersten 1000 Menschen aus dem Lager deportiert, darunter 130 Kinder. Sie wurden nach Kaunas gebracht und dort nach wenigen Tagen ausnahmslos ermordet.

Die drei Grube-Kinder haben überlebt, weil sie als Halbjuden galten und ihr Vater sich geweigert hatte, sich von seiner Frau scheiden zu lassen. Doch im Januar 1945 wurden auch sie zusammen mit ihrer Mutter ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Die Befreiung des Lagers durch die Rote Armee rettete sie.

Erinnerungskultur: Zeitzeuge Ernst Grube (im blauen Shirt) erzählte den Jugendlichen auf dem Gelände des ehemaligen Judenlagers Milbertshofen von seinen Erinnerungen.

Zeitzeuge Ernst Grube (im blauen Shirt) erzählte den Jugendlichen auf dem Gelände des ehemaligen Judenlagers Milbertshofen von seinen Erinnerungen.

(Foto: Antonia Vogelmann)

80 Jahre später gingen die Münchner Jugendlichen mit dem alten Herrn über den Parkplatz auf dem BMW-Gelände, wo einst das Lager stand. Sie haben ihn gefragt: Wie war das damals? Er erzählte, wer seine Freunde waren, wo ihre Betten standen, wie die Freunde abgeholt wurden und er sie nie wieder sah. Erzählte von der Verzweiflung der Erwachsenen, ihren Schreien und der eigenen Angst. Die Jugendlichen haben ihn dabei gefilmt. Die Filmaufnahmen sind Teil des Bühnenstücks. "Es ist nie zu spät, sich zu erinnern", sagt Grube sichtlich bewegt, als er jetzt an diesem Dezemberabend noch einmal mit den jungen Darstellern auf die Bühne geholt wird.

"Ich werde mich daran erinnern, bis ich selbst eine alte Oma bin."

Vorausgegangen war eine monatelange Arbeit. Viele Wochenenden lang haben die Jugendlichen mit den Projektleitern Ideen entwickelt, Texte gelesen, Filme geschaut. Sie haben sich ihre Stadt "erinnernd erobert", erzählt Wenzlik. Haben im NS-Dokuzentrum recherchiert, eigene Texte geschrieben und diskutiert, gefilmt, ihre Filme geschnitten, Musik gemacht und getanzt. "In der Schule wird uns immer etwas vorerzählt, wir schreiben es auf und lernen es auswendig", sagt ein Mädchen. "Aber das hier, das werden wir niemals vergessen. Ich werde mich daran erinnern, bis ich selbst eine alte Oma bin."

Die jungen Darsteller stammen aus acht Münchner Schulen. Es sei wichtig, sagt Wenzlik, dass Gymnasiasten, Real- und Hauptschüler zusammenarbeiten. "So erleben sie, dass Unterschiede nicht trennen müssen, sondern bereichernd sein können für einen gemeinsamen künstlerischen Prozess." Wer die Elf auf der Bühne erlebt, spürt, dass hier ein Team zusammengewachsen ist, "wie eine Familie", sagen die Jungen und Mädchen unisono.

Wenzlik, in Nürnberg geboren, hatte sich nach seiner Ausbildung zum Tanzpädagogen intensiv mit dem Butoh-Tanz beschäftigt. Bis heute fasziniert ihn diese fernöstliche Ausdrucksform, in der sich alle Dimensionen des Lebens in Bewegung umsetzen lassen. Mit Seda Büyüktürkler gründete er eine eigene Butoh-Performance-Gruppe; sie geben Workshops für Jugendliche und treten bei Festivals auf.

In München hat Wenzlik das Rampenlichter-Festival gegründet, das in diesem Jahr zum zwölften Mal stattfand. 18 verschiedene jugendliche Tanz- und Theatergruppen aus verschiedenen Ländern waren eingeladen, und Corona zum Trotz haben sie gespielt, was das Zeug hielt, live im Schwere-Reiter und digital, für jene, die nicht direkt dabei sein konnten. "Es ging ums Festhalten und Loslassen, Zucht und Widerstand bis zur Apokalypse", erzählt Wenzlik, der jedes Mal selbst wieder überrascht ist von der Vielfalt der Ideen. Das Erinnerungsstück "Um 2 Uhr nochmal Kaffee" feierte beim Festival im Sommer seine Uraufführung.

"Jugendliche erfahren, wie sehr ihre Stimme zählt, wie interessant ihre Gedanken sind, wie bereichernd ihr Engagement für alle ist."

Nun hoffen sie, mit ihrem Stück im kommenden Jahr noch in die eine oder andere Schule gehen zu können. Vielleicht lassen sich dann noch viele andere für eines der nächsten Projekte begeistern. "Always remember. Never forget" wird auf jeden Fall eine Fortsetzung finden, sagt Wenzlik.

"Ich bin stolz auf uns, dass wir das so toll hingekriegt haben", sagt einer der jungen Darsteller am Ende der Aufführung. Genau darum geht es, bestätigt Alexander Wenzlik: "Dass Jugendliche erfahren, wie sehr ihre Stimme zählt, wie interessant ihre Gedanken sind, wie bereichernd ihr Engagement für alle ist." Dann sind sie auch bereit, Demokratie mitzugestalten. Man würde diesem Projekt noch viel mehr Teilnehmer wünschen, und mehr Beachtung in den Schulen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: