Erinnerungskultur:Der nüchterne Blick auf den Nazi-Kult

Erinnerungskultur: Ende April 2015 wurde das NS-Dokuzentrum an der Brienner Straße eröffnet.

Ende April 2015 wurde das NS-Dokuzentrum an der Brienner Straße eröffnet.

(Foto: Stephan Rumpf)
  • Seit 2015 hat München einen Ort, an dem sich die Stadt ihrer Nazi-Vergangenheit stellt: das NS-Dokuzentrum.
  • Gründungsdirektor Winfried Nerdinger hört nun auf. Mirjam Zadoff folgt ihm nach.
  • Sie wird sich auch mit der Frage beschäftigen müssen, ob das Ausstellungskonzept verändert werden sollte.

Von Jakob Wetzel

Von seinem Arbeitsplatz aus hat Winfried Nerdinger beides im Blick: die nationalsozialistische Vergangenheit Münchens und auch das Gras, das über sie gewachsen ist, jahrzehntelang. Nerdingers Büro liegt im fünften Stock des NS-Dokumentationszentrums. Von dort oben sieht man unten, unmittelbar vor dem Zentrum, die steinernen Sockel der zwei sogenannten Ehrentempel. Die Nazis verehrten hier einst die toten Putschisten von 1923.

Einer der Sockel, der südliche, ist kaum zu sehen, er ist überwuchert von Büschen und Bäumen. Den nördlichen ließ Nerdinger vor dreieinhalb Jahren ausgraben, um ihn wieder ins Bewusstsein zu rücken. Den zweiten hätte er auch gerne freigelegt, sagt er, aber er durfte nicht, der Bewuchs sei als Biotop geschützt. Das Gras, das hier über die Nazi-Relikte gewachsen ist, es bleibt.

Es sind Nerdingers letzte Tage im Amt. Jahrzehntelang hat der Architekturhistoriker dafür gestritten, dass sich München seiner Vergangenheit als "Hauptstadt der Bewegung" stellt. Das NS-Dokuzentrum, in dem er heute sitzt, hätte es ohne ihn wohl nicht gegeben. Sechs Jahre lang war er dessen Direktor, am Dienstag übergibt er an seine Nachfolgerin. Und damit lässt das Haus nicht nur seinen ersten Direktor hinter sich, sondern ein Stück weit auch seine turbulente Gründungsgeschichte.

Denn das NS-Dokuzentrum war von Beginn an begleitet von Streit, schon deshalb, weil es kein bloßes Museum ist, sondern ein politisches Haus, das nach Schuld fragt und nach Verantwortung. Wie sollte München, die Stadt, in der die NSDAP zur politischen Kraft geworden ist, mit seiner Vergangenheit umgehen? Der Streit darüber hat Nerdinger letztlich ins Amt getragen. Das war 2012: Die Stadt hatte nach langen Debatten endlich beschlossen, einen "Erinnerungs- und Lernort" zu errichten.

Doch Gründungsdirektorin Irmtrud Wojak stritt erst mit dem Stadtrat um den Namen des Zentrums und verscherzte sich dabei Sympathien. Und dann fiel ihr Grobkonzept für die Ausstellung beim wissenschaftlichen Beirat durch, die Stadt entband sie von ihren Aufgaben. Das Projekt war plötzlich ohne Plan und ohne Chef.

Nerdinger kam damals als Retter in der Not: Er war 67, stand als Professor an der Technischen Universität München kurz vor der Emeritierung, und er hatte als Leiter des Architekturmuseums in der Pinakothek der Moderne Erfahrung als Ausstellungsmacher. Mit drei Zeithistorikern erarbeitete er binnen zweieinhalb Jahren eine Ausstellung. Und auch wenn es Konflikte gab, er hielt den Zeitplan ein. Ein zweites Scheitern oder auch nur eine Verzögerung kamen für die Stadt nicht in Frage. Ende April 2015 wurde das Haus eröffnet. Bis heute kamen etwa 400 000 Besucher.

Seit drei Jahren bietet der weiße Würfel in der Nähe des Königsplatzes nun eine detailreiche Ausstellung, die den Bogen vom Ersten Weltkrieg bis zu rechtsextremen Entwicklungen heute schlägt. Historische Objekte zeigt sie keine, um nichts zu ästhetisieren. Sie verlässt sich auf Texte und Fotos, auf große Wandtafeln und kleinteilige Tische mit mehr Informationen. Dazu gibt es Medienguides und ein digitales Lernforum, das zu den großen Stärken des Hauses zählt: Die ganze Ausstellung ist hier erneut aufbereitet, dazu lassen sich die Nazi-Ideologie oder auch die rechtsextremen Netzwerke in München analysieren.

Doch hier beginnen auch die Probleme. Denn das Forum befindet sich im Keller, kaum ein Besucher verirrt sich hierher. Nerdinger sagt, man überlege, einen Hinweis an eine Wand neben dem Ausgang zu projizieren; doch einstweilen verlassen die meisten Besucher das NS-Dokuzentrum und wissen gar nicht, was sie verpasst haben. Und es ist nicht das einzige Problem. Das Gebäude, für das die Berliner Architekten des Büros Georg Scheel Wetzel 2015 den Bayerischen Architekturpreis erhielten, ist nicht nur ohne ein Konzept für eine Ausstellung geplant worden. Sondern es ist für eine solche auch mäßig geeignet.

Nerdinger spricht von Herausforderungen, er verweist auf das Positive: "Sie ist zwar nicht einfach, aber im Grundansatz korrespondiert die klare, minimalistische Architektur mit unserem Konzept, sachlich aufzuklären." Von diesem Konzept ist der Gründungsdirektor überzeugt, nach wie vor - trotz aller Kritik.

Sind 100.000 Besucher im Jahr genug?

Tatsächlich erhielt die Ausstellung ein gemischtes Echo. Die einen lobten sie als gut strukturiert und sachlich, die anderen störten sich gerade daran: Es hieß, sie wirke steril wie ein "begehbares Geschichtsbuch" und sei besonders für jüngere Besucher ermüdend. Die überwältigende Mehrheit der Kritiken sei sehr positiv gewesen, erklärt Nerdinger dazu. Er verweist auf Besprechungen in den Medien und auf fünf Besucherbücher voller Lob. Dank seines Wissenschaftler-Teams um den emeritierten Zeithistoriker der Ludwig-Maximilians-Universität, Hans Günter Hockerts, sei alles fehlerfrei. Große Bilder, etwa von der Schlacht von Ypern im Ersten Weltkrieg, würden sehr wohl aufwühlen. Und der bewusst sachliche Ansatz sei von Experten auch gelobt worden: Nüchterne Aufklärung sei doch das stärkste Mittel überhaupt. Nachgebessert hat das Dokuzentrum nur in einem: Weil Besucher klagten, es fehlten Sitzgelegenheiten, kann sich nun jeder einen Klappstuhl mitnehmen.

Objektiv sind die Zahlen. 220 000 Menschen kamen im ersten Jahr; seitdem hat sich die Besucherzahl bei knapp 100 000 jährlich eingependelt. Zum Vergleich: Die Dokumentation Obersalzberg zählte zuletzt etwa 170 000 Gäste im Jahr. Ins Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände Nürnberg kamen mehr als 250 000. Beide wirken erheblich emotionaler. Doch lassen sich diese Zahlen vergleichen?

Nürnberg und der Obersalzberg übten eine besondere Faszination aus, sagt Nerdinger: hier das Nazi-Propaganda-Gelände, dort die Kulisse, in der Hitlers Berghof stand. München als zentraler Kultort der NSDAP hätte dieses Potenzial wohl auch. Doch die Faszination habe Schattenseiten, warnt Nerdinger. Besucher, die auf Hitlers Spuren wandern oder etwa an seinem Schreibtisch sitzen wollen, die wolle man nicht anlocken. "Wir wollen keine Sensationslust befeuern, sondern das helle Licht der Vernunft auf die Vergangenheit richten."

100 000 Besucher im Jahr sind für Nerdinger ohnehin ein guter Wert. Man habe ja erst angefangen, sagt er. Das Haus müsse sich erst etablieren. Das habe auch mit der Vorgeschichte zu tun. "70 Jahre Verdrängung haben dazu geführt, dass kein Mensch eigens nach München kommt, um sich mit der Bedeutung der Stadt als frühere Hauptstadt der Bewegung zu beschäftigen", sagt er. München, das sei der FC Bayern oder das Oktoberfest. "Das Thema wurde sehr spät in den öffentlichen Raum gebracht. Ich glaube aber, dass es nach und nach bewusster werden wird."

Wie erinnern? Am Freitag ist Nerdinger mit einem Symposion unter dieser Leitfrage in den Ruhestand verabschiedet worden. Er hat als Gründungsdirektor eine kühle, sachliche Antwort auf die Frage gegeben. Jetzt wartet sie auf Mirjam Zadoff. Die Historikerin kennt München, sie hat an der LMU promoviert und ist hier habilitiert worden. Seit 2014 lehrt sie in Bloomington im Mittleren Westen der USA. Von Dienstag an wird sie im fünften Stock des NS-Dokuzentrums sitzen, auf die beiden Sockel der Ehrentempel blicken, auf den freigelegten und auf den überwucherten, und sich jener Frage stellen müssen.

Nerdinger will nun Bücher schreiben. Er plane eines über Architektur im Nationalsozialismus, sagt er. Zuvor aber komme eines über das Bauhaus, das sei schon fertig. Er habe dafür viele Wochenenden geopfert, "aber das hat mir richtig Spaß gemacht". Das Nazi-Regime, Deportationen, ermordete Kinder, das sei so grässlich. Es habe ihm gutgetan, einmal nicht mehr an die Nazis denken zu müssen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: