Erinnerung:Soll das alles sein?

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Sie sind von den Nazis verfolgt worden, bis heute fühlen sich viele von ihnen diskriminiert: Die Sinti und Roma in München wollen stärker gehört werden. Bei einer Veranstaltung im Eine-Welt-Haus fordern sie unter anderem einen Gedenktag und ein würdiges Mahnmal

Von Viktoria Spinrad

Peter Höllenreiner haut auf den Tisch und fixiert sein Publikum. "Wieso sollten wir uns verstecken müssen? Wir sind Sinti, wir sind aber auch Deutsche." Es brodelt im Eine-Welt-Haus. Nicht nur die Sinti und Roma, sondern auch die Schüler einer Berufsschulklasse starren auf den 78 Jahre alten Überlebenden des "Porajmos", so die Romani-Bezeichnung für den Völkermord an den Roma in der Zeit des Nationalsozialismus. Eigentlich sollte der Zeitzeuge auf der Bühne einen Vortrag über sein Leben halten, Projektoren werfen Bilder an die Leinwand, rechts und links von ihm. Höllenreiter aber unterbricht seine Erzählung immer wieder, Wut und Frust sprechen aus ihm, als er Daumen und Zeigefinger zu einem Kreis formt und ruft: "Die Regierung muss doch viel mehr machen!" Was er meint, verdeutlicht ein Bild an der Wand ganz gut, auf dem die Gedenkplatte für im Holocaust getötete Sinti und Roma am Platz der Opfer des Nationalsozialismus zu sehen ist. Soll das alles sein? Das ist die Frage, die an diesem Tag im Eine-Welt-Haus über allem steht.

Peter Höllenreiner war als Kind in vier Konzentrationslagern. (Foto: Stephan Rumpf)

"Geschichte erinnern - Zukunft gestalten", so ist die Veranstaltung überschrieben, mit der die Organisatoren um Höllenreiner einen Dialog zwischen Sinti und Roma, der Politik und anderen Organisationen anschieben wollten, unter der Schirmherrschaft von Oberbürgermeister Dieter Reiter. Der vor 22 Jahren in den Rasen eingelassene Gedenkstein etwa, da sind sich alle Beteiligten einig, kann nicht alles gewesen sein. Auch die kürzlich geendete Sonderausstellung über die Verfolgung der Sinti und Roma in München und Bayern 1933-1945 im NS-Dokumentationszentrum soll erst ein Anfang, ein Neustart an Aufarbeitungsarbeit gewesen sein. Die anwesenden Sinti und Roma wollen mehr gehört werden, sie fordern einen Gedenktag und einen würdigen Gedenkort. Sie wollen mehr Aufmerksamkeit, auch für die Probleme, denen sie heute noch täglich begegnen: Die vielen Diskriminierungen etwa, denen sich viele noch heute ausgesetzt fühlen.

Seine KZ-Nummer hat er sich später auf den Arm tätowieren lassen. (Foto: Stephan Rumpf)

Alexander Diepold zum Beispiel, der auch beruflich jugendliche Sinti und Roma betreut und selbst Sinto ist, positioniert sich auf der Bühne: "Die Gedenktafel gleicht wieder einer Ausgrenzung. Unsere Minderheit muss viel mehr in die Mitte gerückt werden. Wir brauchen einen Gedenktag." Überhaupt fordern die Besucher der Veranstaltung auch ein eigenes Haus, in dem sie ihre Anliegen vorantreiben können. "Die Sinti und Roma brauchen ihre eigene Stätte, eine Heimat, in der sie ihre Kultur pflegen, Menschen einladen und aufklären können." Nur so könnten sie die Verbrechen in der NS-Zeit besser im Bewusstsein der Öffentlichkeit verankern - und für ein Ende der Ressentiments werben.

Heute spricht er als Zeitzeuge oft vor Schülern. (Foto: Stephan Rumpf)

Als Gedenktag zum Beispiel käme der 8. März in Betracht, das Datum, an dem auch Höllenreiners Kindheit abrupt endete. Am 8. März 1943 trieben die Nazis den damals dreijährigen Höllenreiner und mindestens 160 Sinti und Roma aus München und dem Umland zusammen. An diesem Tag begannen ihre Deportationen in verschiedene Konzentrationslager. Für Höllenreiner der Beginn einer Odyssee durch vier verschiedene Lager, die ihn bis ans Ende seines Lebens verfolgen wird. Die Schüler einer Berufsschule im Publikum lauschen aufmerksam, während er von überfüllten Baracken, Typhus und seinen wiederkehrenden Trauma-Flashbacks erzählt. "Ich will nur, dass endlich mehr publik wird, was die Sinti und Roma durchmachen mussten", sagt er und zählt mit donnernder Stimme und mithilfe seiner Finger: "Eins, zwei, drei, vier", die Zahl seiner Familienmitglieder, die in den Konzentrationslagern sterilisiert wurden - verloren hat er mindestens 36 Verwandte. Er hatte Glück, "die Lotterie des Lebens", wie er sagt, und erlebte im April 1945 die Befreiung aus dem KZ Bergen-Belsen durch die Engländer. Bis dahin waren 500 000 Sinti und Roma tot, mindestens, "die meisten waren doch gar nicht registriert", sagt Höllenreiner.

Auch eine spanische Delegation von Sinti und Roma ist gekommen, auch ihr Ziel ist die Aufklärung. Im Raum vor dem Veranstaltungssaal stehen die Ausstellungswände ihres EU-geförderten Projekts, Bilder aus Lagern und Informationen zur Verfolgung sind darauf zu finden. "Wir waren schon in vielen europäischen Städten, um Schüler auf die massenhafte Vernichtung der Roma aufmerksam zu machen", sagt Präsident José Maya und pausiert kurz. "Nur eigentlich dachten wir, dass das zumindest hier in Deutschland schon längst geschehen ist." Um gegen das mangelnde öffentliche Bewusstsein anzugehen, hat sich auch die Berufsschulklasse in Projekten mit dem Thema der Sinti und Roma im Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Dass Roma auch Opfer der Nazi-Verfolgung waren, sagt etwa Berufsschüler Emrllahi Leutrim, sei ihm vorher gar nicht so klar gewesen. Diese Erfahrung hat Höllenreiner schon oft gemacht, wenn er in Schulen unterwegs ist und dort von seiner Geschichte erzählt. Dabei ist doch genau das die Generation, die er erreichen möchte: "Das Wichtigste ist die Jugend. Ihr müsst die Geschehnisse weitergeben", sagt er und zeigt auf die Schüler. Auch damit die Diskriminierung ende, mit denen zahlreiche Sinti und Roma bis heute konfrontiert seien.

"Früher hieß es immer: die Zigeuner kommen", erzählt Ramona Röder, 66, die extra aus Ingolstadt angereist ist. Früher sah sie sich gezwungen, ihre Tochter zu ermahnen, sich an der Schule als "richtige Deutsche" auszugeben - um Mobbing zu vermeiden. "Wie soll ich mich als richtige Deutsche fühlen, wenn ich ständig nach meiner Nationalität gefragt werde?" Fragen wie diese beschäftigen Ramona Röder seit ihrer Kindheit. Vor allem bei älteren Leuten spürt sie oft Ressentiments gegen ihre Minderheit, aber auch ihre Enkelin sei wochenlang weinend aus der Schule gekommen. "Die zweite Nachkriegsgeneration trägt das Trauma ihrer Großeltern weiter. Wir wollen einfach nur eine angemessene Entschuldigung", sagt sie.

© SZ vom 28.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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