Süddeutsche Zeitung

Schwabinger Bürgerprojekt:Die Geschichten hinter den Fassaden

Ein ungewöhnliches Erinnerungsvorhaben aus der Ohmstraße versucht, den verblassten Spuren früherer jüdischer Mitbürger zu folgen - etwa 90 haben Verfolgung, Krieg oder Flucht nicht überlebt.

Von Julian Raff

Abgesehen davon, dass sie zu den begehrten Adressen der Stadt gehört, ist die Ohmstraße in Altschwabing eine ganz normale Münchner Wohnstraße. Gerade das macht die Ausgangslage eines neuen Bürgerprojekts, das die Geschichte ihrer jüdischen Bewohner in der NS-Zeit nun möglichst lückenlos dokumentieren soll, so erschütternd: Auf 340 Metern zwischen Leopold- und Königinstraße lebten mindestens 200 Münchner jüdischer Herkunft, von denen 90 Verfolgung, Krieg oder Flucht nicht überlebt haben.

Wie der am Projekt beteiligte Historiker Matthias Georgi bei der Auftaktveranstaltung erklärte, dürften unter jeder zweiten der 20 Adressen jüdische Mitbürger gewohnt haben. Gemeinsam wollen die Anwohner in den kommenden Jahren nun darauf hinarbeiten, dass am Ende entsprechend viele Häuser Erinnerungszeichen tragen, also jene Wandtafeln und Stelen, die seit vier Jahren an beziehungsweise vor Münchner Fassaden angebracht werden. Das Ausmaß der Verfolgung soll so sichtbar werden - zumindest pars pro toto.

Drei solche Zeichen hat es schon vor dem neuen Erinnerungsprojekt in der Ohmstraße gegeben, vier weitere an der Ecke Ohm-/Königinstraße. Mit dem Anbringen von drei weiteren Zeichen für Irma Hecht, Eugen Doernberger und Hermann Raff am Haus Ohmstraße 13 kann die Initiative bereits zum Auftakt sichtbare Ergebnisse vorweisen. Corona hatte es mit sich gebracht, dass Fachleute und Laien hinter den Kulissen in die Archive gingen und forschten, lange bevor der Auftakt nun im dritten Anlauf stattfinden konnte.

Von einem "außergewöhnlichen, ich sage bewusst nicht: einmaligen" Vorhaben spricht die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde, Charlotte Knobloch. Den Anstoß samt finanzieller Unterstützung hatte vor gut drei Jahren der an der Ohmstraße ansässige Unternehmer Jan Fischer geliefert. Projektpartner haben sich unter anderem mit dem Münchner Institut für Stadtgeschichte und Erinnerungskultur, der Geschichts-Rechercheagentur Neumann & Kamp und, nicht zuletzt, mit einem Arbeitskreis am Schwabinger Oskar-von-Miller-Gymnasium gefunden. Seit Jahresbeginn haben dort knapp zehn Schülerinnen und Schüler der Oberstufe Material gesammelt und geordnet.

Gedacht wird mit den neuen Erinnerungszeichen drei verwandten und doch unterschiedlichen Schicksalen, die auf recht unterschiedliche Weise rekonstruiert wurden - ein Ausblick darauf, was die ehrenamtlichen Schwabinger Historiker und ihre professionellen Begleiter erwartet: Zu seiner Zeit im öffentlichen Leben der Stadt sehr präsent war der Allgemein-Kinderarzt Eugen Doernberger, geboren am 3. März 1867. Doernberger betätigte sich im Ersten Weltkrieg unter anderem als Schiffsarzt und versorgte anschließend Verwundete der Straßenkämpfe um die Räterepublik von 1919. Recht gut dokumentiert sind seine späteren Aktivitäten in der Sozialarbeit der Kultusgemeinde und beim städtischen Gesundheitsamt. Mit eigener Stimme aus der Vergangenheit spricht er als Autor von Studien zur Gesundheit von Schülern, auch am Oskar-von-Miller-Gymnasium. Doernberger starb, Verfolgung, Entrechtung und Raub ausgesetzt, am 21. März 1938. Seine Witwe emigrierte im selben Jahr nach Uruguay.

Vor allem aus Familiendokumenten heraus skizzieren lässt sich die Geschichte des Juristen Hermann Raff, geboren am 23. August 1868. Die Ehe mit seiner nichtjüdischen Frau Katharina Siegel schützte ihn zwar vor der Deportation, nicht aber vor allen sonstigen Schikanen und Repressionen. Während der Pogromnacht entging er der Verhaftung, indem er sich auf einer Alm in den Tegernseer Bergen versteckte, später hoffte er dem Terror in Füssen zu entgehen, wo er am 19. September 1943 starb. Raffs Geschichte bezeugt auch, wie die Verfolger ihre Opfer psychisch zermürbten. Peter Troberg weiß, wie sein Großvater von dessen Sohn, Trobergs Onkel, gerade noch daran habe gehindert werden können, sich von der Echelsbacher Brücke in die Ammerschlucht zu stürzen.

Irma Hecht kam am 6. November 1885 in Nürnberg zur Welt und lebte seit 1901 in München, wo sie als Privatlehrerin für alte Sprachen und als wissenschaftliche Hilfskraft an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) tätig war. Während der NS-Zeit sind ständig wechselnde Wohnaufenthalte in Schwabing dokumentiert, darunter in der Pension Atlantik an der Ohmstraße. Am 20. November 1941 wurde sie nach Kaunas (Litauen) deportiert und dort am 25. November erschossen. Es handelte sich um den ersten von insgesamt 42 Deportationszügen aus München und eine der ersten Opfergruppen, die sofort am Ankunftsort ermordet wurden. Ihre Schwester Emmy konnte 1940 fliehen und starb 1971 in New York. Irma Hechts Geschichte hat lediglich verstreut Spuren in amtlichen und Universitätsarchiven hinterlassen und bleibt für die Historiker und forschenden Laien ein Projekt in Arbeit.

Dass man dabei auf der Hut bleiben muss, macht Historiker Georgi allen Beteiligten und Interessenten klar: Selbst seine Zunft laufe regelmäßig "in die Falle", wenn es etwa darum gehe, Nachkriegsakten auszuwerten. Deren scheinbar neutrale Autoren hätten oft "alles verklausuliert, um Verbrechen zu vertuschen". So gesehen hat gerade erst begonnen, was Initiator Fischer als das höchste erreichbare Ziel der Aktion ausgibt: "Wenigstens eine Schicht von Zivilisation auf einem Riesenhaufen Schande."

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