Süddeutsche Zeitung

Erich Kästner:Die Einsamkeit eines Rastlosen

Von Aufbruch bis Zusammenbruch: Der Schriftsteller und Journalist Erich Kästner kommt kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs nach München und verbringt hier intensive Jahre

Von Antje Weber

Das schmale Pensionszimmer, in dem ich augenblicklich kampiere, steckt schon am frühen Morgen voller Menschen", schreibt Erich Kästner am 18. Oktober 1945. Was die Schauspieler, Journalisten, Regisseure in seinem Münchner Zimmer eint? "Man plant, gründet und redet." Der Zweite Weltkrieg ist kaum vorbei, die Stadt liegt in Ruinen.

Dennoch: "Wohnungssuche, Zuzugsgenehmigung, keine Möbel, das letzte Paar Schuhe, keine Nachricht von den Angehörigen, keine eigene Bibliothek, gepumpte Oberhemden am Leib - alles tritt schattenhaft zurück hinter das, was nun, nach zwölf Jahren geistiger Fesselung und Bedrohung, endlich wieder winkt: die Freiheit der Meinung und der Kunst!"

Und Erich Kästner ist einer derer, die diese neue Freiheit der Meinung sofort maßgeblich nutzen. Der in Dresden geborene Journalist und Schriftsteller ist zu diesem Zeitpunkt gerade erst in München eingetroffen. Im Berlin der Weimarer Republik mit Gedichten und Kinderbüchern berühmt geworden, waren seine Werke 1933 auf den Scheiterhaufen der Nationalsozialisten verbrannt worden.

Kästner war dennoch nicht in die Emigration gegangen, er hatte im nationalsozialistischen Deutschland ausgehalten - und, wie man heute durch Forscher wie Sven Hanuschek weiß, als Autor ein paar mehr Kompromisse gemacht, als danach in seinem Selbstbild Platz hatten. Die letzten Kriegsmonate hatte er in Mayrhofen in Tirol leidlich überstanden. Nun also sitzt der 46-Jährige in einer zugigen Pension in der Stadt München, die ihm bis zum Tod Wahlheimat sein wird, und lässt sich in die Pflicht nehmen.

Kästner schreibt und schreibt. Als Feuilletonchef der frisch gegründeten Neuen Zeitung, die als überregionale "amerikanische Zeitung für die deutsche Bevölkerung" demokratische Aufklärung leisten soll, stürzt er sich als Kritiker und Berichterstatter eifrig in die neue Aufgabe: "Wer jetzt an seine Gesammelten Werke denkt statt ans tägliche Pensum, soll es mit seinem Gewissen ausmachen." Der Moralist und Humanist Kästner jedenfalls kann, was sein Pensum und seine Auswahl angeht, ein gutes Gewissen haben: Er bringt den Deutschen internationale Autoren von Thornton Wilder bis Jean-Paul Sartre näher, er druckt Texte emigrierter Kollegen wie Thomas Mann und Carl Zuckmayer, er fördert neue Namen wie Wolfgang Bächler und Alfred Andersch.

Ausstellung

"Gestatten, Kästner!" Unter diesem Titel zeigt das Literaturhaus München eine Ausstellung über Erich Kästner. Es ist die erste große Ausstellung, seitdem der Nachlass des Schriftstellers in Marbach vollständig erschlossen zur Verfügung steht. In unveröffentlichten Manuskripten und Fragmenten lassen sich neue Facetten Kästners finden, der nach den Stationen Dresden, Leipzig und Berlin von 1945 bis zu seinem Tod 1974 in München lebte. Der Titel der Ausstellung ist Teil eines Zitats aus den "Briefen an mich selber". Darin bezeichnet sich Kästner als "Spiegelmensch". Ende der Fünfzigerjahre hatte er als Autor Weltruhm erlangt und galt in München als bedeutende Persönlichkeit des literarischen Lebens, wenngleich er die schriftstellerische Brillanz seiner Berliner Zeit nicht mehr erreichte. Die Ausstellung wird am Donnerstag, 24. September, um 19.30 Uhr eröffnet, zu sehen ist sie bis zum 14. Februar 2016. Am Donnerstag, 1. Oktober, findet um 18 Uhr eine Kuratorenführung mit Karolina Kühn statt. kg

Und das ist in diesen Nachkriegsjahren des Aufbruchs längst nicht alles. Kästner lässt sich überreden, für das neue Kabarett "Schaubude" in der Reitmorstraße Gedichte zu schreiben, die der Komponist Edmund Nick - wie so viele Künstler nach dem Krieg ebenfalls in München gelandet - vertont. Das nicht nur in kultureller Hinsicht darbende Publikum kann sich bestens mit Zeilen wie dem "Marschlied 45" identifizieren: "Ich trag Schuhe ohne Sohlen./ Durch die Hose pfeift der Wind./ Doch mich soll der Teufel holen,/ wenn ich nicht nach Hause find." Das Wichtigste sei doch: "Ich habe den Kopf, ich hab ja den Kopf noch fest auf dem Hals!"

Erich Kästner jedenfalls hat den Kopf fest auf dem Hals. Er wird in Deutschland zunehmend wieder zu einer wichtigen Stimme. Kästner ist rastlos beschäftigt: Denn da ist ja auch noch sein Part als Kinderbuchautor, der das "Doppelte Lottchen" - 1948 auf der Fraueninsel im Chiemsee vollendet - mit riesigem Erfolg verfilmt und unzählige Male übersetzt sieht. Da ist die von Jella Lepman in München frisch gegründete Internationale Jugendbibliothek, die Kästner stark unterstützt, unter anderem mit dem eigens dafür verfassten Weltbestseller "Die Konferenz der Tiere"; kurzzeitig leitet er in der Jugendbibliothek in der Kaulbachstraße sogar eine Jugendtheatergruppe. Damit nicht genug, gibt Kästner darüber hinaus eine Jugendzeitschrift namens Pinguin heraus. Er lässt sich bei Lesungen und mit Preisen feiern.

Und er lässt sich für das wieder eingerichtete PEN-Zentrum einspannen und wird zunächst Präsident der gesamtdeutschen, nach der Spaltung Präsident der bundesrepublikanischen Schriftstellervereinigung. Zeitlebens wird sich der Schriftsteller politisch engagieren; unter anderem kann man ihn in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in München auf Demonstrationen gegen Atomkraft oder den Krieg in Vietnam erleben.

Und dann sind da noch die Frauen, die viel Zeit beanspruchen. Ein pikantes Thema, denn Kästner führt ein äußerst anstrengendes Doppelleben. Nach außen hin ist er bis zu seinem Tod mit Luiselotte Enderle liiert. Doch nebenher läuft noch so einiges im gut Verborgenen, wie man zum Beispiel in Hanuscheks Biografie nachlesen kann. Wenn Kästner abends seine Wohnung in der Schwabinger Fuchsstraße oder nach 1953 sein Doppelhaus in der Flemingstraße verlässt, dann hat er nicht immer nur Arbeit im Sinn, auch wenn er gerne in Bars schreibt. Besonders intensiv ist die Beziehung zur Schauspielerin Friedel Siebert, die er 1949 in seinem Stammcafé Leopold kennenlernt und die 1957 den gemeinsamen Sohn Thomas bekommt - Tatsachen, die der Autor seiner Partnerin Enderle jahrelang sorgfältig verschweigt.

Doch das Doppelleben fordert seinen Tribut: Kästner bricht 1961 auf einer Lesetournee zusammen. Im Verlauf der langwierigen Genesung von einer offenen Tuberkulose gelingt es ihm, einen Kompromiss zwischen seinen Frauen auszuhandeln: Fortan lebt er abwechselnd fünf Wochen in München bei Luiselotte Enderle, fünf Wochen bei der nach Berlin gezogenen Friedel Siebert - bis letztere 1969 endgültig genug hat von dieser schrägen Konstruktion und sich trennt.

Komplizierte Jahre also, diese letzten Lebensjahre von Erich Kästner, der zudem bei aller Popularität darunter leidet, dass ihm kein großes Werk mehr gelingen will. 1969 ist er 70 Jahre alt, und in einem Vorwort zu einer Neuausgabe seines Erfolgs-Kinderbuches "Emil und die Detektive" von 1928 lässt er die lieben Kinder wissen, dass er den Altersunterschied beim Treppensteigen merke.

Sein dänischer Übersetzer zum Beispiel wohne in Kopenhagen ungünstigerweise in der höchsten Etage eines schönen Hauses: "Und wenn er weiß, dass ich komme, stellt er für mich, auf halbem Wege, einen Stuhl zurecht, und, dicht daneben, einen Whisky mit Soda."

Der Whisky ist Kästner in diesen Jahren auch andernorts eine wichtige Stütze. Es geht ihm nicht gut. Er leidet an Krebs und, wie die Kollegin Hilde Spiel nach einem Treffen bemerkt, an "Versteinerung". Als er am 29. Juli 1974 im Krankenhaus Neuperlach stirbt, ist er allein.

Und so wird am Ende wieder offensichtlich, was Erich Kästner 1940 einmal nachts in einer Berliner Bar in einem Brief an sich selber so beschrieb: "Wer Sie flüchtig kennt, wird nicht vermuten, dass Sie einsam sind; denn er wird Sie oft genug mit Frauen und Freunden sehen." Doch: "Kein Händedruck, kein Hieb und kein Kuss werden Sie aus der Einsiedelei Ihres Herzens vertreiben können. Wer das nicht glaubt, weiß überhaupt nicht, worum es geht."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2659520
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 23.09.2015/odg
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.