Süddeutsche Zeitung

Erfrischung:Dieser Mann macht Schnee-Eis im Hirschgarten

Mit seinem 80 Jahre alten Dreirad versorgt Gabrio Rossi vor allem die Kinder im Park. Etwa mit Granita, geschabtem Eis mit Fruchtsirup.

Von Sophia Baumann

Der klare Eisblock funkelt in der heißen Sommersonne. Gabrio Rossi, 66, bückt sich, holt einen Becher aus der Ablage. Er greift zu einer hohen Sirup-Flasche und schüttet mit einer leichten Handbewegung wenige Milliliter Flüssigkeit in das Plastikglas. Dann setzt er einen Schaber mit Vorratsbehälter auf das Gefrorene, spannt seine Oberarmmuskeln an. Ritsch. Mit einem Zug fährt er vom rechten Rand zur Mitte des Eisblocks. Ratsch. Er spurt vom linken Rand zur Mitte. Ritsch. Ratsch. Nach wenigen Sekunden löst er das Gerät von dem Block, öffnet es und schüttet das Eis in den Becher.

Mithilfe einer kleinen Zange kratzt er die letzten Reste aus dem Schaber. Noch ein Spritzer Sirup drauf, fertig ist das Schnee-Eis. Rossi überreicht es der achtjährigen Sophie. "Oha, das ist lecker", sagt das Mädchen und lacht. Während Rossi den Eisblock wieder in seine Box hebt, schlendert Sophie mit ihrem Eisbecher davon. Doch wenige Minuten später kommt sie zurückgerannt, spricht Rossi an: "Ich habe eine Frage: Wo sind Sie das nächste Mal?" Sie möchte unbedingt wiederkommen, erklärt sie. "Das kann ich noch nicht sagen, du siehst meinen offenen Schirm, du musst einfach suchen", antwortet Rossi. Dann zögert er kurz. "Wenn es brennt, dann rufst du mich an", sagt er und überreicht ihr eine Visitenkarte.

Tatsächlich ist es nicht immer einfach, Rossi zu finden: Er ist ein fliegender Eishändler. Mit seinem fast 80 Jahre alten Dreiradl fährt er an schönen Tagen von Mai bis September durch den Hirschgarten und verkauft Schnee-Eis, oft in der Nähe der Spielplätze. Der Wagen hat weder einen Motor noch Strom oder ein Kühlaggregat. Doch für Rossi ist er perfekt: "Ich wollte nicht nur eine Attrappe, es sollte ein Original-Wagen sein", sagt er.

Dahinter steckt eine besondere Aussage: "Ich wollte symbolisch sagen: Lass uns mal einen Schritt zurück machen", erklärt der Eisverkäufer. In der Natur gehe es auch nicht immer weiter nach oben. "Wir haben schon alles erfunden, jetzt können wir uns auch mal endlich entspannen", sagt Rossi. Sein Dreiradl ist also mehr als nur ein Eiswagen, es vermittelt eine Botschaft.

Rossi ist kein Speiseeishersteller, er sieht sich eher als Künstler. Zwar trägt er einen Strohhut und eine blaue Schürze, aber mit seiner zurückhaltenden Art und seinen bedachten Worten strahlt Rossi Eleganz aus. Nach dem Studium wollte der Grundschullehrer aus Florenz die Welt kennenlernen, reiste durch Europa und lebte in Amerika. Dabei arbeitete er immer kunsthandwerklich, mit Leder, Holz und Stahl. Er verkaufte handgemachte Lederartikel, legte Mosaike. Der Liebe wegen kam Rossi 1992 nach München. Die Beziehung scheiterte, doch Rossi blieb. 1998 lernte er in der Landeshauptstadt seine spätere Frau kennen, mit der er ein Kunstatelier in der Ysenburgstraße einrichtete.

2004 hatte Rossi die Idee mit dem Eis. Er sagt: "Ich wollte etwas auf der Straße anbieten und habe lange überlegt, was es sein könnte. Dann habe ich mich an dieses Eis erinnert, das sehr beliebt war, als ich ein Kind war." Der Künstler kaufte ein Dreirad, restaurierte und verzierte es: Die blaue Vorderseite des Eiswagens zeigt die Silhouette Münchens. Darunter steht in roter Schreibschrift "Valentino's Dreiradl", es ist nach seinem Enkel benannt.

Schließlich reiste Rossi nach Italien, um einen Eismacher zu besuchen und das Handwerk zu verstehen. Granita, von Rossi aus dem Italienischen mit "Schnee-Eis" übersetzt, besteht aus gefrorenem Wasser und Fruchtsirup. "Die Grundbegriffe lernt man schnell: Du musst schaben, Sirup drauf und Ende", sagt Rossi. Um zu wissen, in welchem Zustand das Eis sein muss, sei allerdings einiges an Erfahrung nötig.

Am Anfang lief das Geschäft mit dem Eiswagen mäßig an, auch weil die meisten Deutschen Schnee-Eis nicht kannten. Viele Kunden verwechselten die Sirup-Flaschen mit Schnaps und hielten ihre Kinder von dem Dreirad fern. Rossi erinnert sich: "Fast jedes Eis musste ich erklären." Um weitere Missverständnisse zu vermeiden, schrieb er deutlich "Schnee-Eis" auf seinen Sonnenschirm und lockte Kinder mit vergünstigten Preisen.

Der Plan ging auf: Verkaufte Rossi in seiner ersten Saison nur einen Eisblock, bringt er heute die gleiche Menge an einem einzigen Sommertag los. Viele Geschmacksrichtungen hat Rossi aber nicht im Angebot - ganz bewusst: "Es ist alles sehr kompliziert, in Italien gibt es Eisdielen, die haben 210 verschiedene Sorten. Das macht mich verrückt, das wird verwirrend." Im Kontrast dazu ist Schnee-Eis die Urform des Speiseeis: Schon die Chinesen, Araber, Griechen und Römer holten laut Rossi Schnee aus den Bergen in die Täler und mischten es dort mit Früchten oder Honig.

Inzwischen haben auch Münchner das Eis zu schätzen gelernt, und Rossi hat viele Stammkunden. Er erzählt zum Beispiel von einem jungen Mann, der als Kind sein Gast war und immer noch regelmäßig vorbeischaue. "Das ist, was für mich am schönsten ist: Die Idee der Tradition geht auf. Ich freue mich zu sehen, wie die Kinder auf dem Weg sind, groß zu werden." Ans Aufhören denkt er nicht.

So zuckelt der Eisverkäufer regelmäßig über die schmalen Wege des Parks. Sein roter Sonnenschirm flattert im Fahrtwind, hin und wieder klingelt Rossi. Die Besucher des Hirschgartens schauen auf. Hat er sein Ziel erreicht, bremst er langsam ab und springt dann von seinem Dreirad ab. Er parkt stets im Schatten, denn bei direkter Sonneneinstrahlung schmilzt sein Eisblock.

An schönen Tagen tummeln sich schon nach kurzer Zeit die Kinder um Rossi. Sie löchern ihn mit Fragen: "Was ist das für ein Eis? Wo kommt das her? Wie viel kostet das?" Auch Linda Heller kauft für ihre Söhne Arthur, drei Jahre alt, und Tom, ein Jahr alt, bei Rossi. Am Anfang sei sie skeptisch gewesen, sagt sie. "Das ist ja eigentlich gar kein richtiges Eis", habe sie sich gedacht, und dafür seien die Preise doch recht hoch: Der kleine Eis-Becher kostet drei Euro für Erwachsene und 2,50 Euro für Kinder. Doch dann erfuhr sie, dass das Eis eine besondere Botschaft vermittelt und probierte es. Nun ist sie regelmäßig Kundin. Während ihre Söhne eifrig das Schnee-Eis auf einer nahegelegenen Bank löffeln, packt Rossi den Eisblock wieder ein.

Ist alles sicher verschlossen, stellt Rossi erst einen Fuß auf das Pedal des roten Fahrrads, dann schwingt er das andere Bein über die Stange. Er klingelt, tritt kräftig in die Pedale und setzt sein Gefährt in Bewegung. In beachtlicher Geschwindigkeit ruckelt das Dreirad über die Wege des Parks, die blaue Schürze des Eismachers fliegt im Fahrwind. Kinder schauen Rossi mit offenen Mündern hinterher, bis nur noch der rote Sonnenschirm in weiter Entfernung zu sehen ist. Schließlich verschwindet Gabrio Rossi hinter einer Kurve. Zurück bleibt nur der leise Klang der Fahrradglocke.

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Quelle:
SZ vom 30.08.2017/axi
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