Erfahrungen eines notorischen Radfahrers:Holpriger Alltag

Schmale Rumpelpfade und Abzweigungen ins Verderben: München ist vom Anspruch, die "Radlhauptstadt" zu sein, weit entfernt. Denn trotz aller Bekenntnisse hat es die Stadt bisher versäumt, sich angemessen um die Radler zu kümmern.

Ein Essay von Johan Schloemann

Allenfalls in einem Land, das ausschließlich aus München besteht, ist München die "Radlhauptstadt". Alle, die diese schöne Stadt schon einmal verlassen haben, wissen hingegen: Die Behauptung, die dieser Slogan aufstellt, ist sympathisch, aber falsch. München ist vielleicht Weißwursthauptstadt, BMW-Hauptstadt, Millionärshauptstadt, Bierhauptstadt, Kunst- und Musikhauptstadt, Aperol-Spritz-Hauptstadt. Aber Radlhauptstadt? Niemals. Oder jedenfalls: Noch lange nicht.

An und für sich kann das Radfahren in München etwas Wunderbares sein. Man gleitet an der glitzernden Isar vorbei, aus dem üppig grünenden Englischen Garten stößt man zu erhabenen klassizistischen Staatsbauten und barocken Kirchen vor, und in kleinen, alten Gassen quietscht nur der Sattel leicht, während man der Stadt im Vorbeifahren beim Aufwachen oder Einschlafen zuschaut. Die Wege, die zurückzulegen sind, sind selten sehr lang. Auf dem Rad zeigt sich auch die bessere Seite dessen, was den bürgerlichen Charakter Münchens ausmacht. Sieht man einen Professor im ausgebeulten Sakko durch Schwabing, sieht man eine ganz normale ältere Dame mit Einkaufskorb durch Giesing radeln, denkt man: Hier ist doch gut sein.

Aber der Alltag sieht oft anders aus. Jene Idylle, das ist die Sichtweise, die man einnimmt, wenn man hübsch beim Cappuccino im Hofgarten sitzt. Wenn man also ausblendet, dass München längst nicht nur ein ruhiges Residenzstädtchen ist, sondern eine expandierende Wirtschaftsmetropole von internationaler Bedeutung. In dieser Ausblendung sind die Verantwortlichen im Münchner Rathaus, so scheint es, seit Jahren schon ziemlich gut, in welcher Koalition auch immer. Deshalb orientieren sie sich in ihrer Stadtplanung lieber nicht an interessanten Ideen aus Amsterdam oder Helsinki, sondern an ihrem lokalen Investorenprovinzgeklüngel. Und deshalb ist die Verkehrsinfrastruktur so schlecht für den massenhaften Zuzug von Pendlern gerüstet, den die Stadt heute erlebt.

Erfahrungen eines notorischen Radfahrers: Trügerische Idylle: Eine Radlerin am Wiener Platz in München.

Trügerische Idylle: Eine Radlerin am Wiener Platz in München.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Zwangsurlaub in Kopenhagen

Immer mehr Leute drängen beruflich nach München, zugleich fahren immer mehr Leute mit dem Fahrrad - weil sie es sauberer, vernünftiger, billiger und einfach schöner finden. Eine echte Radlstadt ist eine, in der Fahrradfahren nicht nur als Freizeitsport möglich ist, nicht nur für Sommerfahrer und Sonntagsfahrer, sondern ein ganz normales Alljahres- und Alltagsverkehrsmittel. Doch je enger es auf den Straßen wird, desto mehr fällt auf, dass München noch keineswegs die Voraussetzungen dafür geschaffen hat. Von fahrradfreundlichen Bedingungen wie in Dänemark oder Holland kann man hier nur träumen. Wer noch einmal "Radlhauptstadt" sagt, dem sollte ein mindestens vierwöchiger Zwangsurlaub in Kopenhagen verordnet werden.

An fast allen Kreuzungen in München, großen wie kleinen, fehlen deutlich sichtbare Markierungen der Radwege. Regelmäßig drohen einen da die Rechtsabbieger umzuhauen, und die Fußgänger bleiben wie verschreckte Rehe auf dem Radweg stehen. Sie alle schauen einen überrascht an, als wäre das Zweirad gerade erst erfunden worden - und nicht bereits im 19. Jahrhundert.

Dem Verfasser dieser Zeilen passiert so etwas praktisch täglich. Sehr gerne wird in solchen Situationen der regelkonforme Radfahrer, in dieser Stadt mit der angeblich so entspannten, fast schon mediterranen Mentalität, angebrüllt und für geisteskrank erklärt. Aber fast diese gesamte alberne Konfrontation zwischen den Verkehrsteilnehmern - das Geschimpfe, das aufgeregte Geduze, die Stinkefinger - und ein Großteil der Unfallgefahr gehen schlicht auf bauliche Versäumnisse zurück, auf Planungsfehler der Politik, der Behörden. Nicht selten wird ein Radweg irgendwo plötzlich aufgelöst und auf eine viel befahrene Auto-Fahrbahn gelenkt - da gibt es dann mal eine wunderbar deutliche Markierung, aber es ist eine offiziell eingerichtete Abbiegung ins Verderben.

Rumpelpfade so schmal wie Rennradreifen

Dass ein Fahrradstreifen auf einer Durchgangsstraße wie der Rosenheimer Straße ein mehrjähriges Wahlkampfthema werden kann, anstatt einfach selbstverständlich zu sein, sagt eigentlich schon alles. Und wo es Radwege gibt in München, sind sie oft schmal wie ein Rennradreifen und uneben wie ein Berggrat. Dies ist besonders ein Problem für die Familien, die erfreulicherweise zunehmend mit Transporträdern umweltfreundlicher unterwegs sein wollen. "Anhänger, die zur Beförderung von Kindern eingerichtet sind", sind sogar in der bundesweiten Straßenverkehrsordnung (StVO) seit 2013 ausdrücklich vorgesehen - in München aber ist das noch nicht angekommen, hier werden die Fahrer von Familien- und Lastenfahrrädern immer noch wie Spinner behandelt.

Die Verwaltungsvorschrift zur StVO schreibt übrigens für Radwege eine Mindestbreite von 1,50 Metern vor - München ist mit seinen schmalen Rumpelpfaden eine der Kommunen, die diese Vorschrift besonders konsequent missachten. Oft verlaufen diese engen Wege rechts von den parkenden Autos anstatt direkt an der Auto-Fahrbahn, was nicht nur an den Kreuzungen die Kollisionsgefahr erhöht; oft bekommt man harte Stöße von den großen Narben, die hervorsprießende Baumwurzeln verursachen, während der Asphalt der Auto-Fahrbahn natürlich immer schön glatt gehalten wird.

Gegen vereiste Buckelpisten wird tagelang nichts unternommen

Und immer wieder stoßen die holprigen Radwege auf ungeglättete Bordsteine und Kanten. Das erinnert an die historische Anfangszeit dieser Fortbewegungsart, als die Fahrräder in England boneshaker genannt wurden, Knochenschüttler. Radfahren in München kann einem buchstäblich auf den Sack gehen.

Ebenso missachtet die Stadt ihre Pflicht, die Radwege alljährig befahrbar zu halten: Im Winter werden die meisten Radwege nicht ordentlich geräumt und gestreut, gegen vereiste Buckelpisten wird tagelang nichts unternommen. Das muss einer der Gründe dafür sein, dass man in einer Stadt voller Alpinsportler komisch angeguckt wird, wenn man bei Temperaturen unter zehn Grad plus mit dem Rad fährt. Skifahren gerne, aber Radeln im Winter ist zu kalt und zu gefährlich? Seltsam.

Fairerweise muss man feststellen, dass die Stadt sich um einige Verbesserungen bemüht. Aber eine entschlossene Prioritätensetzung sieht anders aus. Im Umgang mit den Radfahrern zeigt sich ein Dilemma, das Münchens Boom insgesamt kennzeichnet: Man möchte etwas von der gemütlichen Wurstigkeit, die auch zu dieser Stadt gehört, bewahrt wissen ("damit München München bleibt"), und das bedeutet auch ein gewisses Maß an Freiheit von "preußischer" Planung. Aber um eine expandierende und prosperierende Metropole in den Griff zu bekommen, um eine modernere Verkehrspolitik für die vielen Pendler und bessere Lebensqualität für alle zu schaffen - was eben auch deutlich mehr Sicherheit für Münchens Radfahrer bedeutet -, dazu muss man entschieden die Altstadtperspektive verlassen. Erst dann wäre die "Radlhauptstadt" möglich.

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