Süddeutsche Zeitung

Landkreis-Geschichte:Digitaler Gedenk-Ort

Der Erdinger Historiker Giulio Salvati baut eine Datenbank zu den mindestens 6000 Zwangsarbeitern auf, die von 1940 bis 1945 im Landkreis schuften mussten - und er sucht Freiwillige, die ihm dabei helfen

Von Florian Tempel, Erding

Das Ende des Zweiten Weltkriegs jährt sich im kommenden Jahr zum 75. Mal. Man wird in Erding an die Bombardierung der Stadt im April 1945 erinnern. Eine Sonderausstellung über die vielen Vertriebenen, die nach dem Kriegsende in den Landkreis kamen, läuft bereits seit längerem im Museum Erding. Der Historiker Giulio Salvati arbeitet an einer Zusatzausstellung, die an das Schicksal der vielen Zwangsarbeiter erinnern wird, die während des Zweiten Weltkriegs in den Landkreis verschleppt wurden. Bis dahin soll auch ein weiteres Projekt fertig sei: Eine Online-Datenbank über die Erdinger Zwangsarbeiter. Salvati sucht dafür gerade freiwillige Helfer, die beim Erfassen der vielen tausend Daten mitmachen.

Giulio Salvati, Historiker

"In erster Linie geht es mir darum, einen Ort zu schaffen, an dem an die Zwangsarbeiter erinnert wird."

Das Thema Zwangsarbeiter beschäftigt Salvati bereits seit Jahren. Der 31-Jährige hat zum Beispiel entdeckt, dass auf der Tafel am Denkmal am Grünen Platz, die an die Opfer der Bombardierung Erdings erinnert, sich auch Namen von ausländischen Arbeitern finden. Aber ist das ein Gedenkort für Zwangsarbeiter? Die Namen des Ukrainers Paul Baptschuk und des Holländers Gerrit Kegge stehen hier, weil sie bei der Bombardierung ums Leben kamen. Die Intention war jedoch wohl, an die Opfer des Fliegerangriffs der Alliierten zu erinnern, nicht daran, dass sie in Erding starben, weil sie von Deutschen hierher verschleppt worden waren.

Migrationsgeschichten und Gewalterfahrung, Faschismus und Zweiter Weltkrieg, das ergibt spannende Schnittmengen, die Salvati besonders interessieren. Er selbst ist ein internationaler Mensch. Seine Kindheit hat er in Rieti verbracht, einer Kleinstadt nordöstlich von Rom. Als er elf war, zog seine Familie nach Erding. Nach dem Abitur hat er in München und Bamberg Politikwissenschaft und Soziologie studiert, danach in Jena einen Masterstudiengang in Geschichte und Politik des 20. Jahrhundert absolviert. Die vergangenen drei Jahre war er zum Promotionsstudium an der New York University. In seiner Dissertation vergleicht er, wie nach 1945 Vertriebene in Deutschland und in Italien aufgenommen und angesiedelt wurden. Aktuell ist er in Erding. Er hat ein kleines Büro im Museum, ist aber ganz oft im Staatsarchiv München.

Eine der vielen unwahren Erzählungen zur NS-Zeit ist, dass bei Kriegswende ganz viele Unterlagen ganz schnell noch vernichtet wurden. Jahrzehntelang verbreitete sich die feste Behauptung, es habe wenig Sinn lokalgeschichtlich zu NS-Themen zu forschen, denn da sei ja nichts mehr oder kaum etwas vorhanden. Das ist nicht wahr. Als die SZ Erding vor knapp zwei Jahren schon einmal über Giulio Salvati und seine Forschung über Zwangsarbeiter im Landkreis Erding berichtete, ging er noch von etwa 2000 Frauen, Männer und Kinder aus Frankreich, Polen, Russland, der Ukraine und anderen Ländern aus, die von 1940 bis 1945 vor allem in der Landwirtschaft schuften mussten. Er hat die Zahl mittlerweile um das Dreifache nach oben korrigiert. Man kann das nachvollziehen, weil noch so viele Dokumente aus der NS-Zeit da sind.

Die Registrierung war nicht nur Bürokratie, sondern auch eine erkennungsdienstliche Behandlung wie bei einem Kriminellen

Im Staatsarchiv München lagern kistenweise Karteikarten, die in der Erdinger Außenstelle des Arbeitsamts Freising ausgefüllt wurden. Erfasst sind die nach wie vor üblichen Daten jeder Ausländerbürokratie: Name, Geburtsort, Familienstand, Beruf, ein aktuelles Passfoto, Fingerabdrücke, eine Unterschrift. Es gibt ein Feld für die Heimatadresse, in dem laut Aufdruck auch die Straße und Hausnummer eingetragen werden sollte. So genau wollte man es dann aber doch nicht wissen, die Angabe des Ortes und Bezirks reichte aus. Oben auf der Karte steht zum Beispiel "Zivilarbeiter(in) aus Sowjetrussland" oder "Zivilarbeiter(in) polnischen Volkstums", daneben ist eine Ausweisnummer eingetragen. Für viele Passfotos hat man den meist im Halbprofil abgelichteten Zwangsarbeitern ein Nummernschild umgehängt. Die Registrierung war nicht nur Bürokratie, sondern auch eine erkennungsdienstliche Behandlung wie bei einem Kriminellen.

Giulio Salvati sucht noch Mitarbeiter, die unentgeltlich diese Karteikarten sichten, die Daten abschreiben und in eine Datenbank eingeben. "In erster Linie geht es mir darum, einen Ort zu schaffen, an dem an die Zwangsarbeiter erinnert wird", sagt er. Die online für jeden zugängliche Datenbank wird aber nicht nur ein digitales Denkmal, sondern auch ein Werkzeug für Recherchen und Vernetzungen, offen für jeden, der weiter und tiefer zu Biografien und den Bedingungen der Zwangsarbeit forschen möchte. Mit dem Einsatz von freiwilligen Mitarbeitern will Salvati aber auch eine Sensibilisierung für das Thema und die Beschäftigung mit lokaler Geschichte erreichen. Im Umgang mit den Karteikarten tritt man nach mehr als 75 Jahren in einen erstaunlich nahen Bezug zu Personen und Schicksalen, die einem zuvor sehr fern waren.

Wer an der Datenbank mitarbeiten möchte, kann über die Internetseite erdinger-geschichte.de Kontakt mit Giulio Salvati aufnehmen.

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Quelle:
SZ vom 30.11.2019
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