Süddeutsche Zeitung

Vor Gericht:Diebstahl als seelischer Hilferuf

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Ehemalige Postangestellte zu Bewährungsstrafe verurteilt. Sie hatte Parfüm entwendet

Von Gerhard Wilhelm, Erding

Ein bisserl Schwund ist immer, heißt es salopp. Das trifft auch auf die DHL-Paketverteilstation in Erding zu. "Wellenförmig" würden immer wieder Diebstähle von ganzen Paketen oder aus Paketen vorkommen, sagte der Securityexperte von der Post. Vor allem Handys und Elektroartikel würden verschwinden. Dass aber ausschließlich Parfüme einer Firma gestohlen wurden, stellte die Post 2019 vor ein Rätsel - bis sie eine Videoüberwachung installierte. Sie überführte eine 60-jährige Angestellte. Die Staatsanwaltschaft forderte eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten wegen 91-fachen gewerbsmäßigen, besonders schweren Diebstahls und Verletzung des Fernmeldegeheimnisses - ohne Bewährung. Das Schöffengericht unter Richter Björn Schindler sah viele Fälle nicht als zweifelsfrei bewiesen an und verhängte ein Jahr und zwei Monate auf drei Jahre Bewährung.

72 Pakete soll die Frau laut Staatsanwaltschaft zwischen 13. Oktober 2018 und 24. Juni 2019 geöffnet und daraus Kosmetikartikel im Gesamtwert von mehr als 21 000 Euro gestohlen haben, dazu 19 weitere Päckchen eines Parfümversenders aus Erding, welche dieser über E-Bay verkaufte. Dort sollte ein Schaden von 1762 Euro entstanden sein. Die Videoüberwachung habe nach der Aussage des Securityexperten gezeigt, wie die Angeklagte vorgegangen sei: Sie sei vor Öffnung der Poststelle um 6 Uhr bereits um 4.30 Uhr erschienen, habe die Pakete durchsucht und nur die von der Kosmetikfirma geöffnet - und nur auf der Unterseite. Nachdem sie das Parfüm herausgenommen habe, habe sie die Unterseite zugeklebt und das Paket zurück gelegt.

Dabei hatte es sich nicht um Ware gehandelt, die an einen Kunden gehen hätte sollen, sondern um Retoure, die eine Firma aus Schwaig bekommen hätte sollen, die diese Rücksendungen verwertet - zum größtem Teil, indem sie sie vernichtet. Der Firma war aufgefallen, dass die Inhalte oft nicht mit dem Versandschein übereinstimmten und hatte die Post alarmiert.

Bei einer Hausdurchsuchung staunten die Beamten nicht schlecht. Die ganze Wohnung sei voller Kisten gewesen, sagte ein Polizist. "Wir hätten zehn Leute und eine Woche gebraucht, um alles abzutransportieren." Aber letztlich beschlagnahmte man alle Produkte der Kosmetikfirma - 173, aber auch alle anderen Kosmetika, da die 60-Jährige im Verdacht stand, auch andere Päckchen aufgemacht zu haben. Insgesamt schleppten die Beamten rund 1000 Artikel zur Polizeiinspektion Erding. Die Diebstähle hatten nach Angaben des Verteidigers der 60-Jährigen einen Grund. Ihr ganzes Leben habe seine Mandantin darum gekämpft, von ihrer Mutter Liebe zu empfangen, aber nur Demütigungen und Schläge bekommen. Parfüme hätten im Leben ihrer Mutter eine wichtige Rolle gespielt und dann auch in ihrem eigenen. Der Geruch sei für sie eine Art Ersatz für die fehlende Liebe geworden, meinte der Verteidiger. Sie leide schon lange an Depressionen und Minderwertigkeitsgefühlen und sei seit 2008 in Behandlung. Als dann zuerst ihr Vater gestorben sei, der sie im Gegensatz zu ihrer Mutter geliebt habe, dann ihre Katze und im November 2018 ihre Mutter, habe sie zu stehlen angefangen. "In der Fachliteratur gilt Stehlen auch als Hilfeschrei nach außen bei Depressionen", sagte der Anwalt.

Im Gegensatz zur Staatsanwältin sah Björn Schindler keinen Grund, einen Gutachter hinzuzuziehen, der die Psyche der Frau untersucht. Zumal es einen Abschlussbericht einer Reha-Klinik gab, in der die Angeklagte vor kurzem war. Dieser bescheinigte ihr, dass sie unter Depressionen, posttraumatischer Belastungsstörung und Messiesyndrom leide. Auch ein Gutachter würde der Angeklagten nicht bescheinigen, dass sie schuldunfähig sei - aber zumindest verringert, so Schindler.

Laut Staatsanwältin komme aufgrund der kriminellen Energie hinter den Taten eine Bewährung nicht in Frage, zumal sie über weitere Strafverfahren gelogen habe. Eines wegen Diebstahls wurde gegen eine Geldauflage eingestellt, ein anderes findet erst Ende November statt. Die Verteidigung betonte, dass man seiner Mandantin in einigen Fällen nicht nachweisen könne, dass sie die Artikel gestohlen habe. Diese habe sie in ihrem Hortbedürfnis selber erworben oder gehörten ihrem Mann oder Sohn. Zudem sei es Unsinn, von einer Schadenshöhe von mehr als 20 000 Euro auszugehen, wenn die meisten Artikel ohnehin letztendlich auf dem Müll landeten.

Auch das Schöffengericht sah dies so. Zweifelsfrei könne man der Angeklagten nur die Fälle zuordnen, die sie selber zugegeben habe, was 47 Päckchen betreffe. In allen anderen Punkten müsse man sie aber freisprechen - im Zweifelsfall für den Angeklagten. Neben der Freiheitsstrafe verhängte das Gericht eine Schadenswiedergutmachung über 800 Euro für das Parfüm, dass sie verbraucht habe, sowie eine Geldstrafe über 2000 Euro, zahlbar an den Weißen Ring.

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SZ vom 21.11.2020
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