Süddeutsche Zeitung

Flucht aus der Ukraine:Abiturprüfung im Ausnahmezustand

Die 17-jährige Jaroslawa lebt seit ihre Flucht aus der Ukraine im März in Schwaig. Dort lernt sie online für ihren ukrainischen Schulabschluss - ein Unterricht mit Hausaufgaben und Sirenenalarm.

Von Regina Bluhme, Oberding

Für diesen Sommer hatte die 17-jährige Jaroslawa große Pläne: Erst Schulabschluss, dann mehrtägige Abschlussfeier, Strandurlaub mit der Freundin in der Türkei, später Englisch-Studium in Kiew. Dann kam der Krieg. Seit März lebt die junge Ukrainerin mit ihrer Mutter in der Unterkunft in Schwaig in der Gemeinde Oberding. Für die Prüfung büffelt sie hier aber weiter, denn sie ist online mit ihrer Schule in Jagotin, 100 Kilometer östlich von Kiew gelegen, verbunden. Abiturunterricht im Ausnahmezustand mit Hausaufgaben und Sirenenalarm.

Die 17-Jährige spricht fließend Englisch und sie erzählt gerne von ihrer Heimat. Aber ein Foto oder ihren vollen Familiennamen will sie nicht in der Zeitung stehen haben. Jaroslawa P., das genügt, sagt sie. Sie kann sich noch ganz genau an den 24. Februar erinnern. Es war kurz vor Unterrichtsbeginn, da rief die Mutter an, es sei Krieg und sie solle ja zuhause bleiben. Beim Blick aus dem Fenster habe sie einen rotgefärbten Himmel gesehen, "da habe ich Angst bekommen. Aber es war der Sonnenaufgang."

Sechs Tage bis zur Grenze unterwegs

Die Tage darauf seien immer wieder russische Flugzeuge über die Stadt geflogen. Schließlich habe der Vater gesagt, dass sie und ihre Mutter die Ukraine verlassen müssten. Es herrschte Chaos. Sechs Tage waren sie im Auto bis zur Grenze unterwegs. Der Vater fuhr wieder zurück nach Jagotin, um als Freiwilliger die Stadt zu verteidigen, wie Jaroslawa sagt. Seit Mitte März leben sie und ihre Mutter, eine Tante und deren Kind in Schwaig.

So wie in Bayern die Gymnasiasten gerade fürs Abitur lernen, so bereitet sich die 17-Jährige nun in Schwaig auf den ukrainischen Abschluss vor, online und per Video. Lehrer und auch einige Mitschüler und Mitschülerinnen halten sich weiterhin in Jagotin auf, die Stadt ist bisher von russischen Attacken verschont geblieben, erzählt Jaroslawa. Dennoch gibt es immer wieder Tage, da muss der Unterricht wegen Sirenenalarms unterbrochen werden, manchmal für 20 Minuten, manchmal fällt er ganz aus. Das sei schwer auszuhalten, "es ist wirklich hart und das macht Angst", sagt die 17-Jährige. Doch versuchten alle, so normal wie möglich zu leben, fügt sie hinzu. Also werden Hausaufgaben erledigt und Tests geschrieben.

Prüfungen können an der Botschaft abgelegt werden

Jaroslawa P. ist in der elften Klasse, nach der Abschlussprüfung kann sie studieren. In der Ukraine sind die Schüler von der ersten Klasse bis zur neunten zusammen, erzählt sie. Und es gibt dort in einem höheren Jahrgang ein spezielles Fach: Waffenkunde mit Schießübung für die Jungen sowie Krankenpflege für die Schülerinnen. Aufgrund der dramatischen Umstände würden dieses Jahr nur die Fächer ukrainische Sprache, Mathematik und ukrainische Geschichte geprüft, erklärt Jaroslawa P. Die Prüfung könnten die Geflüchteten an der ukrainischen Botschaft ablegen. Ein Termin stehe aber noch nicht fest.

Nebenbei lernt die junge Ukrainerin auch fleißig Deutsch, in einer Klasse in Erding und auch mit Ehrenamtlichen vom Oberdinger Helferkreis "Starke Hände". Sie verstehe schon ein bisschen, nur Sprechen falle ihr sehr schwer. Eine ungewohnte Situation für sie. In der Ukraine habe sie zu den Besten der Klasse gehört, "und hier weiß ich so vieles nicht".

Ein Landwirt bringt gratis Lebensmittel

Im Moment sei sie einfach nur froh, in Sicherheit zu sein, sagt die 17-Jährige. Die Unterkunft in Schwaig, ursprünglich für Obdachlose gedacht, ist erst im August vergangenen Jahres eröffnet worden. Je zwei Zimmer mit jeweils zwei Plätzen teilen sich ein gemeinsames Bad und eine kleine Wohnküche. Jaroslawa sagt, sie und ihre Mutter und auch die Tante fühlten sich hier wohl. Die Lage inmitten des Gewerbegebiets ist zwar nicht optimal, aber der Bus Richtung Ortsmitte und Erding, den sie kostenlos nutzen können, hält vor der Tür.

Insgesamt leben in der Unterkunft in Oberding 20 ukrainische Geflüchtete, darunter fünf Kinder und vier Jugendliche. Inzwischen sind die Bewohner auch mit gebrauchten Fahrrädern gut unterwegs. Vor kurzem hat der Oberdinger Bauhof auf der Wiese vor der Unterkunft eine Schaukel und eine Wippe aufgestellt. Ein Landwirt bringt zweimal die Woche gratis Lebensmittel vorbei. Die Hilfsbereitschaft sei groß, sagt Andrea Hartung vom Oberdinger Helferkreis. Die ersten Behördengänge seien erledigt, Anträge am Laufen, doch das Geld sei knapp. Deshalb bittet sie: Wer helfen will, solle die Tafel Erding unterstützen.

"Meine Tränen ändern nichts an der Situation"

Wie wird es jetzt für Jaroslawa weitergehen? Der Krieg in ihrem Heimatland werde noch lange dauern, fürchtet sie. Es werde nie ein Ende möglich sein, solange Putin an der Macht sei. Die 17-Jährige sieht ihre Situation aber pragmatisch. Derzeit sei sie einfach nur froh, in Sicherheit zu sein. Sie telefoniere täglich mit dem Vater und der Oma, am liebsten beim Spazierengehen, "da kann ich gut sprechen und atmen". Sie habe hier auch schon Freundinnen gefunden, die Stadt Erding gefällt ihr gut. Sie will einfach das Beste aus der Situation machen. "Meine Tränen und Sorgen ändern nichts an der Situation."

Wer weiß, vielleicht klappt es ja doch noch mit dem Studium in Kiew. Irgendwann. Jetzt will sie erst einmal den Abschluss gut schaffen. Nur mit den Feierlichkeiten wird es nichts werden. Begeistert erzählt sie, was nach dem Abitur an ihrer Schule in Jagotin alles los gewesen wäre: feierliche Zeugnisverleihung, Walzer im Abendkleid bei der Abschlussfeier, weiterfeiern bis in den Morgen, "dann schauen wir uns alle gemeinsam den Sonnenaufgang an." Einen rot gefärbten Himmel, vor dem man keine Angst haben muss.

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