„Die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen kann und darf nicht aufhören, auch wenn manche politische Strömung dies fordert.“ Die stellvertretende Bezirkstagspräsidentin Friederike Steinberger (CSU) fand klare Worte mit aktuellem Bezug, als sie bei der Gedenkveranstaltung für die Mordopfer der NS-Euthanasie im Wasserschloss Taufkirchen sprach. „Wir sehen, dass die Arbeit für einige Gedenkstätten in Deutschland bereits schwieriger wird, finanzielle Mittel eingeschränkt werden sollen und die Arbeit der Gedenkstätten von manchen tatsächlich infrage gestellt wird – in meinen Augen ist das eine bedenkliche Entwicklung, der wir uns entgegenstellen müssen.“
Am 21. Oktober 1940 waren die ersten von insgesamt 125 Patienten aus der damaligen Landesfürsorgeanstalt Taufkirchen in die damalige Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar deportiert worden, um ihren Leben geplant, heimtückisch und grausam durch Mord ein Ende zu setzen. Mindestens 68 dieser Menschen wurden in die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz gebracht und dort unmittelbar nach ihrer Ankunft in Gaskammern getötet. Andere ließ man in sogenannten Hungerhäusern in Haar systematisch verhungern. „Den Ermordeten gedenken“, war der kurze und prägnante Titel der Erinnerungsveranstaltung zum Jahrestag, an dem „die NS-Euthanasie Taufkirchen erreichte“, wie Professor Peter Brieger, der Ärztliche Direktor des kbo-Klinikums, sagte.
Die NS-Euthanasie, bei der in den Jahren 1940 bis 1945 insgesamt etwa 300 000 kognitiv beeinträchtigte und psychisch kranke Menschen umgebracht wurden, war ein Komplex der Nazi-Verbrechen, der viele Jahre lang zu wenig beachtet wurde. Dabei dienten die Krankenmorde im deutschen NS-Staat als Vorbild für die späteren Vernichtungslager. Die NS-Euthanasie-Verbrechen und der Holocaust müssen auch deshalb zusammen gedacht werden. Sie zeigen beide gleichermaßen die ungeheuerliche Monstrosität des Nationalsozialismus.
Die kbo-Kliniken sind als die psychiatrischen Krankenhäuser des Bezirks Oberbayern die Nachfolgeeinrichtungen der einstigen „Anstalten“. Die Verantwortlichen haben erkannt, dass sie in der Verantwortung sind, an die Opfer zu erinnern und ihre Schicksale aktiv zu erforschen. „Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen unserer Einrichtungen haben damals mitgemacht oder durch Unterlassen einen Beitrag geleistet“, sagte Rudolf Dengler, der Standortleiter des kbo-Klinikums Taufkirchen, die NS-Euthanasie sei somit Teil der Geschichte „unseres Hauses“.

„Erinnerungskultur kann uns die notwendigen und wichtigen Leitplanken unseres Handels im Hier und Jetzt geben“, sagte Friederike Steinberger. Sie betonte jedoch auch, dass die NS-Krankenmorde keinesfalls als abgeschlossenes, historisches Kapitel der Geschichte betrachtet werden können. Denn „viele Angehörige der ermordeten Menschen suchen auch heute noch nach Informationen zu ihren Vorfahren.“
„Es geht darum, Haltung zu zeigen und Verantwortung zu übernehmen“, sagte der Taufkirchener Bürgermeister Stefan Haberl (CSU). Das Gedenken der Opfer sei wichtig, doch es gehe auch um „Verantwortung für die Zukunft“. Mit dem Erinnern und Erforschen der NS-Euthanasie beziehe man Position gegen „Ausgrenzung, Abwertung und Entmenschlichung“. Haberl sagte, man wolle sich fortan „alljährlich an diesem Tag“ zusammenfinden. Es war die bislang dritte Gedenkveranstaltung am 21. Oktober in Taufkirchen. Beim ersten Mal war es eine noch sehr kurzfristig anberaumte und improvisierte Veranstaltung. Seit vergangenem Jahr gibt es eine feste Gedenktafel im Eingangshof des Wasserschlosses, wo auch Kränze niedergelegt und Kerzen entzündet wurden.

Als Gastredner der Gedenkveranstaltung sprach Peter Eigelsberger, der Leiter des Lern- und Gedenkorts Schloss Hartheim. Er sagte, dass in dem etwa 20 Kilometer westlich von Linz gelegenen Renaissance-Schloss im Rahmen der sogenannten „Aktion T4“, also der Ermordung von psychisch Kranken oder von Menschen mit Behinderungen, 16 000 Menschen und später noch 7000 Häftlinge aus den Konzentrationslager Mauthausen, Dachau und Ravensbrück umgebracht wurden. Seit 2003 ist Schloss Hartheim eine Gedenkstätte, die jedes Jahr von etwa 17 000 Menschen besucht wird.
Eigelsberger berichtete von persönlichen Begegnungen, wie der mit einem 83-jährigen Mann im vergangenen Jahr, dessen Bruder eines der Opfer war. Der drei Jahre ältere Bruder des Mannes war als achtjähriger Bub in Hartheim ermordet worden. Sein Bruder war an derselben Krankheit erblindet, wegen der später, im jungen Erwachsenenalter, auch er erblindete. „Was ihn massiv beschäftigte“, sagte Eigelsberger, „war die Frage, was ihm widerfahren wäre, wäre er während der NS-Zeit erblindet.“

Den zweiten Vortrag hielt Christian Pfleger. Er arbeitet eigentlich als Krankenpfleger am kbo-Klinikum Taufkirchen, hat aber als studierter Historiker die Erforschung der Schicksale der NS-Euthanasie-Opfer übernommen. Seinen Vortrag hatte er unter den Titel „Unfassbare Dimensionen und fassbare Lebensspuren“ gestellt. Pfleger machte dabei deutlich, dass eine rein statistische Betrachtung der NS-Krankenmorde jede menschliche Dimension vermissen lasse. Gleichwohl sei die Aktenlage oft so dürftig, wie er an mehreren Beispielen deutlichen machte, dass die biografische Auswertung zum Leben der Opfer nur „Existenz-Splitter“ ergebe.
Zudem seien – wenn sie denn noch vorhanden sind – viele ärztliche Berichte, Schreiben der Polizei oder Gerichtsakten mit zum Teil „enthemmtem Sprachgebrauch“ verfasst, der die betroffenen Menschen deklassiert und abwertend klassifiziert hat. Und so wirke leider die Entmenschlichung der Opfer in der NS-Zeit bisweilen nach, sagte Pfleger. Manche Nachfahren täten sich wegen der stigmatisierenden Diagnosen auch heute noch sehr schwer mit der Aufarbeitung ihrer seit Jahrzehnten unaufgeklärten Familiengeschichte.