SZ-Adventskalender:Der Sorgenfresser

Für die Familie S. ist es nicht die Pflege des schwer behinderten Sohnes, die Kraft kostet, sondern die Kosten der medizinischen Hilfsmittel. Dennoch ist der achtjährige Tobias eine Bereicherung für seine Eltern und Schwestern

Von Theresa Parstorfer, Erding

SZ-Adventskalender: Ein Kinderrollstuhl mit seinen Spezialvorrichtungen ist teuer. 20 Prozent muss die Familie S. selber bezahlen.

Ein Kinderrollstuhl mit seinen Spezialvorrichtungen ist teuer. 20 Prozent muss die Familie S. selber bezahlen.

(Foto: Catherina Hess)

Tobias' helle, blaue Augen scheinen stets aufmerksam in verschiedene Richtungen zu blicken. "Aber da kommt vorne nichts rein und hinten nichts an", sagt seine Mutter Elisabeth S. Obwohl er also nichts sieht, könne der achtjähriger Junge den Menschen aber direkt in die Seele blicken, davon ist Elisabeth S. überzeugt. Aufgrund eines Gendefekts ist Tobias von Geburt an schwer mehrfachbehindert, noch dazu ist er Epileptiker. Seine Mutter erzählt, wie manche Menschen sich sofort und auf der Stelle in den hübschen, blonden Jungen im Rollstuhl verlieben würden, während er andere zutiefst verunsichere. "Aber am Ende bekommst du sie alle, nicht wahr?", sagt sie und beugt sich über die Tischkante, um die kleine zur Faust verkrampfte Hand ihres Sohnes liebevoll zu schütteln. Tobias lacht und reckt sich ein bisschen in seinem Rollstuhl.

Nicht nur in die Seele blicken könne Tobias den Menschen, er selbst sei die Seele der Familie. Zwei weitere Töchter hat Elisabeth S. mit ihrem Mann, eine jünger, eine älter als Tobias und vor einiger Zeit habe die ältere gesagt: "Tobias ist mein Sorgenfresser. Er ist immer da und hört mir zu, wenn ich traurig bin". Elisabeth S. zückt ihr Smartphone und zeigt ein kurzes Video, in dem ihre jüngste Tochter den großen Bruder samt Rollstuhl umarmt und ein Lied singt, in dem es um Tobias geht, und darum, wie sehr sie ihn lieb hat.

Nach der Geburt ihres Sohnes wusste Elisabeth S. sechs Monate lang nichts von seiner Behinderung. "Offiziell habe ich damals ein gesundes Baby mit nach Hause genommen", sagt sie. Doch dass irgendwas nicht stimmte, das habe sie schnell gespürt, denn in den folgenden Wochen habe sich das Baby nicht normal entwickelt. "Diese ersten sechs Monate waren viel schlimmer, als alles, was nach der Diagnose kam", sagt Elisabeth S. Denn mit dem Wissen, was nicht stimmte, eröffnete sich auch die Möglichkeit, ein Leben um die Behinderung des Sohnes aufzubauen.

Seit acht Jahren hat die Familie nun schon Übung mit der Pflege. Lückenlos organisiert und streng getaktet ist jeder Tag. Morgens wird Tobias zur Schule und zur Therapie abgeholt, nachmittags ist die große Schwester da, um ihm die Tür zu öffnen. Essen kocht Elisabeth S. vor, püriert und friert es ein. Einen Tag in der Woche, immer dienstags, arbeitet sie selbst. "Und wenn er im Krankenhaus liegt, ich gehe trotzdem arbeiten. Dann muss der Papa ran", sagt sie, und das klingt nicht hartherzig, sondern so, dass klar wird, dass diese strenge Routine notwendig ist, um das Leben irgendwie schaffbar erscheinen zu lassen. "Ich war schon immer gut im Planen", fährt sie fort, was einen klaren Vorteil darstellt, denn "viele Familien werden genau dadurch aus der Bahn geworfen", weiß Stephanie Perret vom Ambulanten Kinderhospiz München (AKM), eine Stiftung, die Familien mit einem pflegebedürftigen Kind betreut. Oftmals stelle schon diese sorgfältige Organisation von Tagesabläufen eine Überforderung dar.

An die Grenzen ihrer Kraft bringt Elisabeth S. jedoch nicht die Pflege oder gar das Wissen, dass ihr Sohn behindert ist, sondern "der Kampf mit den Behörden". Aus der schwarzen Handtasche auf dem Stuhl neben ihr zieht sie ein paar Briefe. Rechnungen von orthopädischen Fachgeschäften. Das Spezialbett war vor Kurzem kaputt. 575,37 Euro. Der Spezialrollstuhl braucht eine besondere Vorrichtung, damit Tobias' Kopf beim Fahren im Schulbus nicht nach vorne knallt. 483,48 Euro. 80 Prozent davon übernimmt die private Krankenversicherung, manchmal weigert sie sich jedoch, überhaupt etwas zu bezuschussen, 20 Prozent von jeder dieser Rechnungen muss die Familie selbst tragen. Auch wenn jede dieser Summen für sich genommen für eine mittelständische Familie nicht die Welt bedeuten würde, so summieren sich diese Kosten nicht nur, sondern kehren immer wieder. Der Gedanken, Hilfe oder Spenden anzunehmen, ist ebenfalls schwer zu ertragen für eine Frau, die es gewohnt ist, für alles zu kämpfen, alles selbst zu schaffen und im Notfall die Altersvorsorge anzuzapfen. Aber manche Dinge lassen sich weder planen noch aus eigenen Mitteln finanzieren. Beispielsweise ist das Familienauto alt, und auch wenn Elisabeth S. es fahren würde, "bis es auseinanderfällt", waren dieses Jahr schon mehrere Reparaturen fällig. Zudem wird Tobias bald nicht nur seinem Rollstuhl entwachsen, sondern auch zu schwer sein, als dass seine Mutter ihn täglich selbst aus dem Auto wird heben können. Deshalb wird die Familie ein spezielles Rollstuhlauto samt Schienen brauchen. Wie viel ein solches kostet, weiß Elisabeth S. Darüber nachdenken will und kann sie aber gerade noch nicht.

Ebenso wenig will sie über die Zeit nachdenken, wenn ihr Mann nicht mehr arbeitet. "Wir haben die Kinder spät bekommen, spät gebaut, und in spätestens zwölf Jahren wird mein Mann in Rente gehen. Was machen wir dann?" Nicht nur wird es viel schwieriger sein, die alltäglichen Kosten für Tobias' Pflege zu zahlen, mit dieser Zahl rückt zudem eine andere Rechnung in den Vordergrund: die Lebenserwartung von Kindern mit Tobias' Behinderung liegt bei 20 Jahren. So alt wird er sein, wenn sein Vater in Rente geht. Ob ihren Töchtern bewusst sei, dass ihr Bruder mit großer Wahrscheinlichkeit irgendwann nicht mehr ihr Sorgenfresser sein wird. "Ja", sagt Elisabeth S. mit fester Stimme "die ältere sagt dann: aber jetzt noch nicht."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: