Sucht im Landkreis Erding:Wenn der Drang zum Zwang wird

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Auch junge Abhängige kommen zu Prop, aber deren Zahl nimmt ab. (Foto: Florian Peljak)

Thomas Pölsterl von der Erdinger Suchtberatungsstelle Prop berichtet über das vergangene Jahr: Die Zahl der Betreuten ist zurückgegangen, vor allem bei den unter 21-Jährigen. Alkohol aber bleibt das große Problem

Von Veronika Wulf, Erding

Es kann der abendliche Joint sein, das Spielen um Geld, die Schlaftabletten oder auch ein Drang, einkaufen zu gehen: Es gibt viele Arten von Süchten. Allerdings ist keine in Erding so verbreitet wie die Abhängigkeit vom Alkohol. Hilfe finden Betroffene seit über 20 Jahren in der psychosozialen Beratungs- und Behandlungsstelle des Vereins Prop in der Landshuter Straße 9. Der Großteil ist berufstätig und steht mit durchschnittlich knapp 40 Jahren mitten im Leben.

"Zu uns kommen Leute wie du und ich", sagt Thomas Pölsterl, Psychologe und Leiter von Prop. Suchtkranke entsprächen oft nicht dem Klischee vom Alkoholiker, der unter der Brücke liegt, oder dem entgleisten Jugendliche, der Chrystal raucht. Im Jahr 2016 waren es 582 Personen - hauptsächlich Männer - die nicht von der Flasche loskamen. 65 Prozent der Prop-Besucher sind erwerbstätig oder in Ausbildung. Der Anteil der männlichen Süchtigen lag 2016 bei 68 Prozent, der Altersdurchschnitt bei 38,5. Zieht man die 36 Personen ab, die sich anonym an Prop wandten und die in den meisten Fällen nur einmal kamen, waren es 546 Hilfesuchende, die 2016 die Beratungsstelle aufsuchten, davon 77 Angehörige von Suchtkranken. In den vergangenen Jahren waren es etwas mehr: Zwischen 2013 und 2015 zählte die Organisation 600 bis rund 700 Betreute. "Dieser Trend ist bayernweit zu beobachten, insbesondere ein überproportionaler Rückgang bei den unter 21-Jährigen", sagt Pölsterl. Der Anteil der über 50-Jährigen dagegen stieg in der Erdinger Einrichtung auf 26 Prozent.

Dass hauptsächlich Männer kamen und gleichzeitig Alkohol mit 60 Prozent das häufigste Suchtmittel aller Hilfesuchenden war, passt für Leiter Pölsterl zusammen. "Alkohol- und Cannabissucht kommt tendenziell eher bei Männern vor, Medikamentenabhängigkeit und Kaufsucht sind theoretisch eher weibliche Süchte." Allerdings treten die letzten beiden selten auf, so Pölsterl. Das zweithäufigste Suchtmittel aller Prop-Besucher war Cannabis mit 22 Prozent. "Härtere" Drogen kommen weniger vor: Opiate wie Heroin lagen lediglich bei sechs Prozent, Stimulanzien wie Chrystal und Amphetamine bei 4,5 Prozent. "Die Zahlen bilden ab, was in unserer Gesellschaft generell konsumiert wird", sagt Pölsterl. Alkohol ist ein Lebensbestandteil der meisten Menschen. Zur Sucht wird es dann, wenn ein Zwang besteht, wenn man nicht mehr ohne kann. Deshalb melden sich nur wenige Raucher bei Prop. "Die Meisten glauben, sie könnten jederzeit aufhören, wenn sie wollen", sagt Pölsterl und fügt überraschenderweise hinzu: "Was auch so ist." Doch generell sei die Zahl der Raucher sehr stark zurückgegangen, deshalb kämen auch weniger zu ihnen.

Im Alltag taucht das Wort "süchtig" immer wieder auf: Männer werfen ihren Frauen vor, "shoppingsüchtig" zu sein, Mütter ihren Söhnen, zu viel am Computer oder Handy zu hängen. Doch woran merkt man, dass es sich wirklich um eine Sucht im psychologischen Sinne handelt? "Kaufsüchtig sind beispielsweise die, die kaufen müssen, wegen des Kaufens Willen", sagt Pölsterl, "und nicht, weil sie unbedingt das T-Shirt haben wollen." Oft verschwänden die Waren tütenweise im Keller, unbenutzt und originalverpackt - weil die Kauflust vorerst befriedigt ist und der Partner es nicht sehen soll. Computerspielsüchtige gäbe es nur sehr selten. "Auch wenn Jugendliche viel Zeit am Computer verbringen, ist das oft noch weit von einer Sucht entfernt", sagt Pölsterl. Manchmal sei häufiges Computerspielen aber eine Begleiterscheinung von (suchtmäßigen) Kiffen.

Zur Beratung des Prop kamen die Betroffenen im Jahr 2016 zwischen ein- und zehnmal. Auch Angehörige sitzen vor Pölsterl und seinen Kollegen, weil sie sich um ihren Mann, ihre Frau, den Sohn oder die Tochter sorgen. "Leider kommen die Betroffenen da nur selten mit", sagt Pölsterl. "Aber auch denen können wir helfen, sich zu helfen." Die Suchthilfe basiert auf Freiwilligkeit. Der Name Prop leitet sich vom englischen "proposal" ab, was so viel heißt wie "Vorschlag". Die Behandlung ist meist über einen längeren Zeitraum angelegt und der Patient kommt rund 80 Mal im Jahr mit den Experten in Kontakt. Ärzte, Psychotherapeuten, Suchttherapeuten und Sozialarbeiter arbeiten in dem zehnköpfigen Team. Beim "betreuten Wohnen" besuchen Prop-Mitarbeiter die Behandelten mindestens zweimal pro Woche zu Hause, oft über Jahre hinweg. Außerdem vermittelte Prop im vergangenen Jahr 25 bis 30 Personen an die stationäre Reha und soziotherapeutische Wohnheime. Prop bietet in seiner Kontakt- und Begegnungsstätte auf der anderen Seite der Sempt, in der Landshuter Straße 15, chronisch Suchtkranken Aktivitäten und einen Raum zum Aufwärmen, Wäsche waschen und Leute kennenlernen. Für zwei Euro gibt es dort ein warmes Mittagessen. Durchschnittlich 15 Personen am Tag nutzten dieses Angebot im Jahr 2016.

Die Arbeit von Prop zeigte auch 2016 Erfolg: 68 Prozent der Besucher entließ die Einrichtung "gebessert" oder "erfolgreich", 23 Prozent brachen die Behandlung ab. Bezahlen müssen die Hilfesuchenden nichts. Die Behandlung zahlt laut Pölsterl die Rentenversicherung, für Beratung und Vermittlung kommt der Bezirk Oberbayern auf, genauso wie - nach Einzelfallentscheidung - für die Kosten des betreuten Wohnens. Die Jugendarbeit finanziert sich über Spenden und ab und zu fließe auch Bußgeld vom Amtsgericht zu ihnen, so Pölsterl. Die drei größten Sponsoren sind der Flughafen München, die Sparda-Bank und der Fliegerhorst.

Die Beratungsstelle des Prop ist von Montag bis Freitag vormittags unter 08122/9998130 erreichbar, offene Sprechstunden sind jeden Mittwoch von 9 bis 11 und von 17 bis 18 Uhr.

© SZ vom 30.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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